Wiener Wut: Österreich dreht die Zeit zurück
Österreichs Regierung kassiert das Rauchverbot und lockert vielleicht das Tempolimit. Sie reagiert damit auf die Stimmung im Land – und wirkt entschlossen, die Zeit zurückzudrehen.
Hoch oben über dem Regierungsviertel lärmt ein Polizeihubschrauber, auf dem Heldenplatz bibbern die ersten Demonstranten in der Kälte, tausende weitere marschieren ihnen entgegen, vom Karlsplatz aus, von der Universität, vom Museumsquartier. 8 Uhr morgens in Wien am „Tag X“, wie die Gegner der neuen Regierung diesen Montag vor Weihnachten getauft haben. Sie protestieren gegen das, was sie für die nächsten Jahre befürchten: Sozialabbau und ausländerfeindliche Politik. Drei Stunden später wird Sebastian Kurz als Kanzler der Republik Österreich vereidigt, und mit ihm seine Koalition aus Konservativen und Rechtsaußen, aus Österreichischer Volkspartei und Freiheitlicher Partei Österreichs.
„Zum Glück gibt es nichts, wogegen ich demonstrieren müsste“, sagt Heinz Pollischansky und grinst. Der 54-Jährige, schütteres graues Haar, sauber gestutzter Fünftagebart, sitzt im Warmen, in seinem Lokal „Centimeter“, eine Viertelstunde Fußweg entfernt vom Kanzleramt. Pollischansky erzählt vom unverhofften Sieg, den ihm die neue Regierung beschert hat: Das ab dem nächsten Jahr gelten sollende absolute Rauchverbot in Gaststätten, 2015 von der großen Koalition beschlossen, wird kassiert.
Pollischansky tritt seit Jahren als Wortführer der raucherfreundlichen Gastronomen auf, organisiert Demonstrationen, sammelt Unterschriften – und nun hat er diesen Kampf, der schon verloren schien, tatsächlich noch gewonnen. Zum Entsetzen von Ärzten, Gesundheitspolitikern und weiten Teilen der Bevölkerung. Die Hälfte der EU-Länder hat Zigaretten aus Restaurants verbannt, Österreich wollte mitziehen – und nun legt die neue Regierung plötzlich den Rückwärtsgang ein.
Sie kommt damit einem ihrer wichtigsten Versprechen für die kommende Amtszeit nach. In der Präambel ihres Programms steht der Satz: „Wir müssen der staatlichen Bevormundung ein Ende setzen.“ Und vier Sätze später gleich noch einmal: „Statt Bevormundung von oben herab geht es darum, den Dienst an den Österreicherinnen und Österreichern zu leben.“
Gewaltiger Umbau des Landes
Es geht um das Ende der tatsächlichen, empfundenen oder bloß behaupteten Gängelung der Bürger eines Landes durch dessen Obrigkeit, durch den Staat mit seinen Gesetzen, durch Leute in den Großstädten und deren Moralismus, durch „Gutmenschen“ und die Sprachschöpfungen von Feministen und Gender-Experten. Vor allem die Wähler der FPÖ beklagen das. Und der Regierung geht es darum zu zeigen, dass tatsächlich eine neue Zeit angebrochen ist in Österreich. Kurz vor Weihnachten sprach der neue Verkehrsminister in Interviews davon, über eine Lockerung des Autobahn-Tempolimits von 130 Kilometern pro Stunde nachzudenken.
Die so große wie vage Erzählung von der „Veränderung“ hat Sebastian Kurz den Wahlsieg gebracht, mittlerweile wird sie konkreter: Das Regierungsprogramm liest sich wie eine Melange aus der deutschen Agenda 2010 und Plänen für die Festung Europa. Arbeitszeitflexibilisierung, eine Art Hartz IV – und damit eine Schlechterstellung – für Langzeitarbeitslose, nur noch Sachleistungen für Asylbewerber. Dazu mehr Gewicht für die direkte Demokratie – es deutet sich ein gewaltiger Umbau des Landes an.
Für die jüngsten Schüler werden Noten ab der ersten Klasse wieder Pflicht – damit auch bei Sechsjährigen die „Leistung wieder gefordert wird“, wie Vizekanzler Heinz-Christian Strache es formuliert. Zur Familie heißt es im Regierungsprogramm, sie sei als „Gemeinschaft von Frau und Mann mit gemeinsamen Kindern natürliche Keimzelle und Klammer“ der Gesellschaft. Kein Wort zur „Ehe für alle“, diese erzwang mitten in den Koalitionsverhandlungen der Verfassungsgerichtshof, zur großen Verärgerung der FPÖ. Österreichs neue Regierung scheint entschlossen, das Land in eine Zeitmaschine zu stecken.
Für die FPÖ gehört der Kampf gegen Bevormundung zur politischen DNS. Übervater Jörg Haider positionierte die Partei als einzige Alternative zum Proporzstaat, den sich SPÖ und ÖVP nach dem Krieg in enger Abstimmung aufgebaut hatten. In den langen Jahren der roten und schwarzen Co-Herrschaft konnte nur was werden, wer das entsprechende Parteibuch hatte und nach den Regeln spielte. Die FPÖ trat an mit dem Versprechen, die individuelle Freiheit in den Mittelpunkt zu stellen – gegen die Gängelung durch den Staat, aber auch gegen die Moralvorstellungen der Linken.
"Eine Art Kulturkampf"
Einer der profiliertesten Meinungsforscher im Land, Christoph Hofinger, beobachtet „eine Art Kulturkampf“ in Österreich, grob vereinfacht zwischen Tradition und Moderne, Land und Stadt, Arbeitern und Akademikern. „Einige Menschen fühlen sich bevormundet von den städtischen Eliten. Sie blicken verklärend in die Vergangenheit, wo angeblich weniger Vorschriften herrschten“, sagt Hofinger. Die Rechtspopulisten bedienen diese Nostalgie.
Es geht um persönliche Freiheit, sagt Heinz Pollischansky, der Wirt und Raucherlobbyist, „in die Steinzeit will ja keiner mehr zurück“. Er sieht sich als Konservativen im strengen Wortsinn: Alles soll bleiben, wie es ist. Pollischansky hat nie geraucht, aber er will sich nicht vorschreiben lassen, ob er es in seinem „Wohnzimmer“ erlaubt: „Wer ein Problem mit dem Rauch hat, kann ins Nichtraucherzimmer gehen. Oder draußen bleiben.“
Die Gefahr für Passivraucher, Arbeitnehmerschutz – das sind alles keine Argumente, die durchdringen. Auch nicht zu Kanzler Sebastian Kurz, selbst Nichtraucher und Unterstützer einer von Österreichs Krebshilfe und Ärzteschaft getragenen „Don’t Smoke“-Kampagne.
Der 31-Jährige hat der Entscheidung einen Slogan verpasst: „Nichtraucherschutz nach dem Berliner Modell“. Das soll nach der perfekten Balance zwischen wirtschaftlichen Interessen und medizinischer Vernunft klingen.
Es wird also in Österreichs Lokalen weiter Trennwände geben, wie sie Pollischansky auch hier im „Centimeter“ eingezogen hat, das mitten im hippen Bezirk Neubau steht wie ein Mercedes-Oldtimer in einem Fuhrpark voller Smarts. Im 7. Stadtbezirk trinkt sonst das links-grüne Milieu in Shabby-Chic-Cafés Bio-Hollersaft zu veganen Muffins. Das „Centimeter“ wirkt mit der dunklen Holzvertäfelung an der Wand und dem rustikalen Tresen wie eine zu groß geratene Eckkneipe. Die Spezialität des Hauses kommt in einer Art Blechtrog: ein Meter Österreich mit Schweineschnitzel, Rindsgulasch, Blunzengröstl, Eiernockerln und Würstchen. Wer will, kann sich dazu Bier im Holzfass bestellen und selber zapfen. „Bei mir soll man satt werden“, sagt Heinz Pollischansky.
„Der Gender-Wahnsinn muss aufhören“
102 Kilogramm Fleisch isst jeder Österreicher pro Jahr, das ist europäischer Rekord. Alkohol getrunken wird nur in Litauen und Belgien mehr, jeder vierte Österreicher greift täglich zur Zigarette, die hier „Tschick“ genannt wird, das ist der dritthöchste Wert in Europa. FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache versprach im Wahlkampf, die „österreichische Wirtshauskultur“ zu verteidigen. Er zog demonstrativ an seiner Kippe, auf einem „Smoke-in", das Heinz Pollischansky Anfang Dezember veranstaltete, und fragte: „Was wollen sie uns als nächstes verbieten? Den Schweinebraten?“
Damit eine Rhetorik wie diese verfangen kann, muss sich bei vielen Österreichern einiges angestaut haben. Ende 2011 änderte das Parlament mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und Grünen den Text der Bundeshymne, seitdem besingen die Österreicher nicht mehr nur die Heimat größer Söhne, sondern die Heimat großer Söhne und Töchter. Eine Änderung, die bis heute nicht in den Stadien der Republik angekommen ist.
2014 machte sich der „Volks-Rock-’n’-Roller“ Andreas Gabalier zur Galionsfigur des traditionellen Österreichs. Der Sänger mit der Pomadentolle, ein Superstar in Deutschland und Österreich, präsentiert sich oft als heimatverbunden, aber unpolitisch. Bei der Eröffnung eines Formel-1-Rennens im steiermärkischen Spielfeld ließ er die „Töchter“ aus, als er die Nationalhymne vortrug. Der ORF nahm daraufhin eine Sondersendung in sein Fernsehprogramm, in der sich Gabalier mit der Frauenministerin duellierte. „Die Leute im Parlament wissen einfach nicht mehr, wie die Leute ticken“, sagte er. „Der Gender-Wahnsinn muss aufhören.“
In Österreichs Kulturkampf steht das Gabalier-Österreich gegen das von Sigrid Maurer. Die 32 Jahre alte, also junge Frau, Feministin, Grüne, saß seit 2013 im Parlament. Die meisten Österreicher kennen sie erst, seit sie es wie ihre gesamte Partei nach der Wahl im vergangenen Oktober wieder verlassen musste – als „Stinkefinger-Grüne“. Zum Gespräch lädt sie ins Café Espresso in Neubau. Rote Polsterbänke, Vintage-Tresen, sie bestellt Café Latte, schaut genervt auf ihr Smartphone. Freunde haben ihr geschrieben, sie stehe in der „Kronen-Zeitung“, schon wieder. Maurer seufzt.
Großer Einfluss der Boulevardmedien
Anfang November hat sie ein Foto getwittert, vom Abend des Abschieds der Grünen aus dem Parlament. Sigrid Maurer sitzt im schwarzen Blusenkleid auf einem Stuhl, die Bubikopf-kurzen Haare nach links gekämmt, Beine übereinandergeschlagen, die Ellbogen senkrecht auf die Lehnen gestützt, einen Sektkelch in der rechten Hand. Den Mittelfinger der linken Hand streckt sie aus, den Mund presst sie zusammen, als müsse sie sich ein Schimpfwort verkneifen. „To the haters with love“, schreibt sie dazu, an die Hasser mit Liebe.
Es war ein Stinkefinger gegen die, die sie, die Feministin, im Netz beleidigen, die ihr wünschen, dass sie vergewaltigt wird. „Ich lasse mich nicht kleinkriegen – das war die Botschaft. Es war ein perfektes Foto“, sagt sie.
Nicht für die Boulevardpresse. Die „Kronen-Zeitung“ fragte: „Ist so ein Benehmen zu akzeptieren?“ Eine Antwort gab Heinz-Christian Strache. „Echt niveaulos, echt Grün“, schrieb er auf seiner Facebook-Seite an seine 750 000 Fans. Und Sigrid Maurer musste ihr eigenes Facebook-Konto stilllegen, so viele Hassbotschaften liefen ein. „Ich kann das ab“, sagt sie. „Aber es nervt.“
Der Boulevard hat das Spiel über die politische Bande für sich als Geschäftsmodell entdeckt. Der Chef der „Krone“ sagte in einem Interview, dass die Klickzahlen auf der Webseite seiner Zeitung steigen, wenn Strache einen Link der Zeitung auf Facebook teilt. So zahlt sich der Volkszorn aus: Auflage für die Medien, Stimmen für die FPÖ.
Einer der bekanntesten Politikwissenschaftler des Landes, Fritz Plasser, hat für Österreich den Begriff der „Boulevarddemokratie“ geprägt. Nirgendwo sonst in Europa haben Boulevardmedien – die 740 000 Mal am Tag verkaufte „Kronen-Zeitung“ mit ihren zweieinhalb Millionen Lesern und die beiden Gratisblätter „Österreich“ und „Heute“ – solch einen großen Einfluss auf die politische Kultur.
Die Regierung wird Fakten schaffen
Sie sind Teil einer laut Plasser „informellen Koalition“ zwischen Politikern und Boulevard, die allerdings auch recht formell werden kann – über die Werbung, die Regierung und staatsnahe Unternehmen in den Zeitungen platzieren. Pro Einwohner gerechnet geben Kanzleramt und Ministerien neun Mal so viel Geld für Inserate aus wie der deutsche Regierungsapparat. Rechts eine „Entgeltliche Einschaltung“ zu einem OSZE-Treffen in Wien, links daneben ein Artikel darüber, wie Sebastian Kurz als Außenminister Österreichs Hauptstadt wieder ins Zentrum der Weltdiplomatie rückt.
„Der Boulevard treibt den Pessimismus“, sagt Meinungsforscher Christoph Hofinger. „Die Leser haben zum Beispiel das Gefühl, das Leben sei unsicherer geworden. Da besteht eine gewisse Kongruenz zu FPÖ-Positionen.“
Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF will die neue Regierung mit weniger Geld und einem neuen Auftrag versehen, unter dem Beifall des Boulevards, der traditionell gegen Rundfunkgebühren und die angebliche Indoktrination durch den „Rotfunk“ zu Felde zieht.
Sigrid Maurer rührt in ihrem zweiten Café Latte, sie klingt ein wenig resigniert. „In der Politik geht es immer um Diskursverschiebungen. Da hat die Linke versagt“, sagt sie. „Aber wir müssen gegen die rechte Hegemonie kämpfen. Dieser Kulturkampf, der wird doch nur drübergelegt, um die Inhalte zu verdecken.“
Aber erst einmal wird Österreichs neue Regierung Fakten schaffen. Und eine erste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts OGM zeigt: Ihre Pläne finden mehrheitlich Zustimmung, auch jene, gegen die am Tag der Vereidigung 6000 Menschen auf die Straße gingen. Die Deckelung der Mindestsicherung, die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Kürzung des Arbeitslosengeldes für Langzeitarbeitslose – all das begrüßt die Mehrzahl der Befragten. Nur ein Vorhaben bleibt umstritten. Der Stopp des Rauchverbots.
Christian Bartlau