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Orazio Giamblanco ist seit dem Angriff durch einen Skinhead schwerbehindert.
© Joe Kramer

Neonazi-Opfer: Orazio Giamblanco will seinen Peiniger einladen

Vor 15 Jahren prügelte ein Skinhead auf ihn ein. Seitdem ist Orazio Giamblanco schwerbehindert. "Ich bin kaputt", sagt er – und hat doch dem Täter verziehen. Will ihn vielleicht sogar treffen.

Die zwei Männer sind umklammert wie in einem Ringkampf. Der Ältere, kompakt und schwer, presst seinen linken Arm auf Nacken und Schulter des Jüngeren. Der, ein durchtrainierter Typ mit schütterem Vollbart, greift dem Älteren ins rechte Bein und hebt es ruckartig nach vorne. Der Ältere steht jetzt da wie in einem großen Schritt und erstarrt. Keiner sagt etwas. Der Ältere schwankt. Nach etwa zehn Sekunden zieht er das Bein zurück. Jetzt will der Jüngere mehr: „Komm, weiter so.“ Der Ältere zögert. Dann drückt er das rechte Bein nach vorn. Und zieht das linke Bein nach, das in einer Schiene aus Stahl und Hartplastik steckt. Der Jüngere ist unerbittlich, „keine Pause und weiter“, der Ältere wackelt. Doch er schafft den nächsten Schritt, das rechte Bein ruckt vor, das linke hinterher, der Jüngere ruft „das Becken nach vorn.“ Der Ältere wird blass, er schwitzt, er geht weiter, Schritt für Schritt. Er kippelt nach rechts, er schwankt. Aber er fällt nicht.

Das ist grandios. Gehen ohne Krücken, der Rollstuhl parkt an der Wand, das ist für Orazio Giamblanco ein Erfolg, der kaum zu erwarten war. Der Italiener ist schwerbehindert und mit seinen 70 Jahren fast schon zu alt für spürbare Fortschritte bei der Krankengymnastik. Doch hier im Bielefelder Vorort Brake, im Studio des drahtigen, 30 Jahre jüngeren Physiotherapeuten Tino Czerlinski, überschreitet Giamblanco für zehn Minuten seine physischen Grenzen, um acht, neun Meter. „Das ist das Maximum“, sagt Czerlinski. Aber er freut sich. „Was Sie gesehen haben, ist das Werk eines Jahres“, er holt Luft, „ich bin stolz auf Orazio.“ Der sagt nichts. Zum Sprechen fehlt ihm jetzt die Kraft.

Orazio Giamblanco wird nie wieder richtig gehen können und kann es seit 15 Jahren schon nicht. Am 30. September 1996 drosch ihm der Skinhead Jan W. in Trebbin, einer Kleinstadt südlich von Berlin, eine Baseballkeule gegen den Kopf. Nur knapp entging Giamblanco dem Tod, Ärzte retteten ihn in zwei Notoperationen. Sein Leben war doch nicht zu Ende. Aber es ist ruiniert. Giamblanco leidet an spastischer Lähmung, er kann nur mit Mühe sprechen, er ist häufig depressiv und permanent auf Hilfe angewiesen. Der Italiener ist eines der am schwersten getroffenen Opfer rechtsextremer Gewalt seit der Wiedervereinigung. Und er ist einer von Tausenden.

Wenn man die Polizeistatistiken der vergangenen Jahre hochrechnet, in denen regelmäßig von hunderten Verletzten die Rede war, haben rechtsextreme Gewalttäter seit dem Oktober 1990 in Deutschland vermutlich 10 000 Menschen attackiert. Mindestens 148 Männer und Frauen, die zehn Toten aus der Mordserie der Jenaer Terrorzelle eingeschlossen, haben das nicht überlebt.

In diesen Tagen entsetzt sich die Republik über diese rechtsextremen Killer. Braune Gewalttäter sind wieder ein großes Thema. Und was ist mit den Opfern?

Was Orazio Giamblanco und tausende weiterer Opfer rechter Angriffe erlitten haben und auch Jahre nach der Tat durchstehen müssen, stößt in der Öffentlichkeit nur punktuell auf Interesse. Es stört auch kaum jemanden, dass Bundesregierung und Polizei von lediglich 48 Todesopfern rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung sprechen. Das wahre Ausmaß rechtsextremer Gewalt in diesem Land ist offenbar tabu. Die vielen Giamblancos sieht man nicht.

Der erste Besuch bei Orazio Gamblanco: ein schockierender Anblick.

Im April 1997 hat der Tagesspiegel erstmals den Italiener besucht. Er lag in einer neurologischen Spezialklinik in Coppenbrügge, einem Dorf westlich von Hannover. Giamblanco wirkte apathisch, brachte kaum ein Wort heraus. In seinem Zustand, ein halbes Jahr nach der Tat, physisch und psychisch zerschlagen, ertrug er nicht einmal einen Blick in die milde Frühlingssonne. Die Ärzte sagten, die vollständige Lähmung der linken Gliedmaßen sei in eine „mittelgradige“ übergegangen. Auf die Frage, ob Giamblanco jemals wieder gesund werde, kam die Antwort, „das ist extremst unwahrscheinlich“.

Dem Täter war das egal. Jan W. hatte an jenem Tag im September 1996 mit einem Kumpan Ausländer gejagt. Giamblanco war erst wenige Tage zuvor aus Bielefeld nach Trebbin gekommen, um einen Hilfsarbeiterjob auf einer Baustelle anzunehmen. Die Skinheads fingen ihn an einer Telefonzelle ab, er hatte gerade mit seiner Lebensgefährtin in Bielefeld telefoniert, der Griechin Angelica Berdes. Der Schlag mit der Baseballkeule traf Giamblanco mit voller Wucht. Mit Schädelfraktur und Hirnblutung wurde der Italiener im Klinikum Luckenwalde eingeliefert. Vor dem Krankenhaus, daran erinnern sich Angelica Berdes und ihre Tochter Efthimia noch heute, fuhren kurz nach ihrer Ankunft Skinheads in Pkw vor. „Die Ärzte sagten uns, wir sollten Luckenwalde lieber meiden“, Efthimia Berdes regt sich darüber auch jetzt noch auf, 15 Jahre danach.

15 Jahre. Eine Zeit der vielen Qualen und wenigen Lichtblicke. „Unser Leben hat sich nach dem Unfall total verändert“, sagt die 37-jährige Efthimia Berdes, „wir wurden alle getroffen.“ Das Wort „Unfall“, das den rechtsextremen Angriff in den Nebel des Zufälligen taucht, als hätte ein Autofahrer ein anderes Fahrzeug übersehen, ist für Giamblanco und die Frauen der Begriff, mit dem sie den Ursprung ihrer Katastrophe benennen. Als könnte „Unfall“ das Trauma lindern.

Giamblanco selbst kann die 15 Jahre nur mühsam in Worten zusammenfassen. „Was mit mir gemacht . . . ich bin kaputt . . . habe geflucht.“ Auch Lebensgefährtin Angelica Berdes, eine zierliche Frau Anfang 60, fällt der Rückblick schwer. Sie zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf, „ich bin mit meiner Kraft am Ende“.

Gleich nach der Tat gab sie ihre Arbeit auf, um Giamblanco zu pflegen. „Ich helfe ihm morgens aus dem Bett, bringe ihn ins Bad und ziehe ihn an“, sagt Angelica Berdes. Drei- oder viermal die Woche wird sie mit Giamblanco vom Roten Kreuz zur Krankengymnastik gebracht. „Da bleiben wir mehr als drei Stunden“, sagt sie. Manchmal setzt sich auch Angelica Berdes an ein Fitnessgerät, „wegen meiner Rückenschmerzen“. Fast jede Nacht müsse sie Orazio mehrmals aus dem Bett heben und zur Toilette bringen. Schon vor Jahren zog sie sich einen Leistenbruch zu. Im September kippte sie dann plötzlich um.

„Ich dachte, meine Mutter stirbt“, Efthimia Berdes weint. „Ich wusste nicht, wie es weitergeht, ich habe Beruhigungstabletten genommen.“ Im Krankenhaus wurde die Mutter sofort operiert, Efthimia Berdes opferte zwei Wochen ihres Urlaubs und kümmerte sich allein um Giamblanco, „da habe ich gesehen, wie schwer das ist“. Obwohl sie es ja wusste.

Nach der Gewalttat hatte Efthimia ihrer Mutter drei Jahre bei der Pflege geholfen und nicht gearbeitet. Der Verzicht auf den Job war jedoch keineswegs freiwillig. Efthimia musste ihre Lehre in einem Friseursalon abbrechen, weil der Chef kein Verständnis für Fehlzeiten hatte. „Ich musste doch meiner Mutter helfen, mit Orazio klarzukommen“, sagt Efthimia, „wir wussten doch gar nicht, wie das ist, mit einem Schwerbehinderten zu Hause.“

Der Tagesspiegel hat das Opfer Jahr für Jahr begleitet - ein Kampf gegen das Vergessen.

Wie das ist, hat der Tagesspiegel von 1997 an Jahr für Jahr dokumentiert. Eine Langzeitbeobachtung über ein Opfer rechtsextremer Gewalt, um wenigstens einen Fall vor dem Vergessen zu bewahren, das sonst die Regel ist, nach den letzten Berichten über eine Tat oder über den Prozess gegen den oder die Täter.

Was seit 1997 in Bielefeld geschah, erscheint wie ein kleines, individuelles Kapitel in der Mentalitätsgeschichte der Republik. Da gibt es die Helden des Alltags und die kalten Verwalter des Schicksals eines Opfers, das für sich selbst nicht mehr sorgen kann. Die Helden, das sind Angelica Berdes und ihre Tochter Efthimia, deren Leben ein einziger Stresstest zu sein scheint. Immerhin fand Efthimia Berdes im Jahr 2000 wieder einen Job, sie arbeitet in einer Schokoladenfabrik, im Drei-Schicht-Betrieb. Die Freizeit verbringt sie weitgehend mit Orazio und ihrer Mutter. Der Wunsch, eine eigene Familie zu gründen, wirkt zunehmend illusionär. „Die Männer, die ich kennengelernt habe, hatten kein Verständnis dafür, dass ich bei der Pflege für Orazio helfen muss“, sagt Efthimia, aber: „Ich kann doch meine Mutter nicht im Stich lassen.“

Mehr Engagement, als vielleicht zu erwarten war, zeigt auch ein Mann wie der Physiotherapeut Tino Czerlinski. Er hat nie aufgegeben, Giamblanco wieder auf die Beine zu stellen, auch wenn ein Leben ohne Krücken und Rollator und Rollstuhl undenkbar erscheint.

Und ein Student, der parteilose Trebbiner Stadtverordnete Hendrik Bartl, erinnerte seine Stadt daran, dass der rechtsextreme Angriff auf Giamblanco ein Teil ihrer Geschichte ist. Im Dezember 2009 besuchten Bartl, Vizebürgermeisterin Ina Schulze und der Vorsitzende des Stadtparlaments, Peter Blohm, den Italiener in Bielefeld. Die Stadt hat zudem ein Spendenkonto eingerichtet. Und dann sind da die vielen Leserinnen und Leser des Tagesspiegels, die sich Jahr für Jahr an der Spendenaktion der Zeitung für Giamblanco beteiligen. So war es dem Italiener mehrmals möglich, mit den beiden Frauen in seine alte Heimat Sizilien zu reisen und Verwandte zu besuchen. Auch in diesem Jahr flogen die drei zur Insel und konnten sich ein halbwegs behindertengerechtes Hotel leisten.

Wie der Täter heute über seine Tat denkt.

Im Kontrast zu so viel Mitgefühl steht die Kälte, die bei Institutionen zu spüren war, die ein Opfer wie Giamblanco als Nummer verbuchen. Da meinte eine große Krankenkasse, Giamblanco brauche keinen Elektrorollstuhl, obwohl der Hausarzt das Gerät empfohlen hatte. Als der Tagesspiegel mit der zuständigen Mitarbeiterin der Krankenkasse sprach, blieb sie zunächst stur. Bis sie beim Blick in die Unterlagen feststellte, dass sie für den Fall gar nicht zuständig war. Bald darauf wurde der Elektrorollstuhl geliefert. Und es gab weitere Merkwürdigkeiten, zum Beispiel fehlerhafte Abrechnungen zum Nachteil von Giamblanco. Er und die Frauen fühlten sich mehrmals einer ungnädigen Bürokratie ausgeliefert.

Und der Täter? Der Skinhead, der sich nach dem Überfall rühmte, er habe „einen Itaker aufgeklatscht“? Jan W. ist längst ein anderer. Nachdem ihn das Landgericht Potsdam 1997 zu 15 Jahren verurteilt hatte, wegen versuchten Mordes, begann er nachzudenken. Er löste sich von der rechten Szene, bereute öffentlich seine Tat. Im Jahr 2006 gab er dem Tagesspiegel zwei Briefe für Giamblanco und die Frauen mit. In den Schreiben, an denen er monatelang gefeilt hatte, entschuldigt sich Jan W. für den Angriff. „Wissen Sie, es ist sehr herzaufwühlend, wenn ich der Wahrheit jeden Tag aufs Neue ins Auge blicke. Denn mir wird bewusst, was ich damals für einen riesengroßen Fehler begann, indem ich Ihr Leben zerstörte und auch das Ihrer Familie. Aber gleichzeitig zerstörte ich auch das Leben meiner Familie und mein eigenes.“

Angelica und Efthimia Berdes waren gerührt. Sie verziehen dem einstigen Rechtsextremisten. Giamblanco hingegen brauchte etwas Zeit. Er schlief eine Nacht darüber. Am nächsten Tag sagte er, „der Junge hat sich gute Gedanken gemacht“. Dann kam der Satz, der Jan W. ein wenig die Seelenqualen nahm: „Ich verzeihe ihm jetzt.“

Am vergangenen Wochenende, ein Team des Rundfunks Berlin-Brandenburg saß in Bielefeld mit am Tisch, konnte sich Giamblanco sogar vorstellen, den Täter zu treffen. Ihn vielleicht nach Bielefeld einzuladen. Angelica und Efthimia Berdes widersprachen nicht. Doch in die Geste mischt sich die Sorge, die rechtsextreme Gefahr komme wieder näher. Die Morde der Zwickauer Terrorzelle an Kleinunternehmern türkischer und griechischer Herkunft haben Giamblanco und die Frauen erschreckt. „Man kriegt Angst“, sagt Efthimia Berdes. Und Giamblanco fragt: „Kommt es wieder schlimm?“

Frank Jansen

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