Ein Jahr NSU-Prozess: Marathon der Verbrechen
Genau heute vor einem Jahr begann der NSU-Prozess unter größtem Medieninteresse. Dieser Dienstag ist der 110. Verhandlungstag. Nach wie vor sind viele Fragen offen. Vor allem auch zur Rolle der Hauptangeklagte Beate Zschäpe.
Wenn sich Richter, Ankläger, Angeklagte und Verteidiger an diesem Dienstag im Saal A 101 im Oberlandesgericht München versammeln, ist es genau ein Jahr her, dass sie dort das erste Mal aufeinandertrafen. In dem Jahrhundertverfahren geht es um eine unfassbare Serie schwerer Verbrechen: zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle, eine besonders schwere Brandstiftung
Was wurde im Prozess bislang abgehandelt?
Die zehn Morde der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ waren im ersten Jahr das größte Thema. Die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten von 2000 bis 2007 neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft erschossen sowie eine „biodeutsche“ Polizistin in Heilbronn. Zu den Tötungsverbrechen hat der 6. Strafsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl weit mehr als 100 Zeugen befragt - Angehörige der Ermordeten, Polizisten, Ärzte, Rettungssanitäter und Personen, die bei den Taten in der Nähe waren.
In diesem Jahr geht es nun auch um die Ermittlungen zum Umfeld der Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Carsten S., Holger G. und André E. sowie der toten Terroristen Mundlos und Böhnhardt. Die beiden Neonazis hatten, vermutlich war es geplant, ihrem Leben ein Ende gesetzt, als ihnen im November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach die Polizei nahe kam.
Viele Zeugen steuerten mit ihren Angaben beklemmende Details zur Rekonstruktion der zehn Morde bei. Aussage für Aussage wurde klarer, dass Mundlos und Böhnhardt mit einer unglaublichen Kaltblütigkeit agiert hatten. Sie töteten ihre Opfer mit gezielten Kopfschüssen - tagsüber, meist in einer belebten Gegend. Bei dem Mordanschlag auf die Polizistin Michèle Kiesewetter und ihren Kollegen Martin A., die beiden saßen in einem geparkten Streifenwagen auf der Theresienwiese in Heilbronn, hielten sich viele Menschen in der näheren Umgebung auf. Martin A. schilderte dem Gericht, wie er von hinten eine Person kommen sah, dann riss die Erinnerung ab. Der Polizist hatte den Kopfschuss wie durch ein Wunder überlebt. Aber er leidet weiter unter der Tat und vermisst seine Kollegin.
In dem Prozess waren auch die Ermittlungen der Polizei zu den Morden an den Migranten ein großes Thema. Es belastet die Hinterbliebenen der Mordopfer, dass Polizeibeamte schilderten, wie sie lange der Vermutung nachgingen, die Ermordeten könnten in Drogengeschäfte oder andere dunkle Machenschaften verstrickt gewesen sein. Doch kaum ein Beamter bereute im Gericht, die Familien über Jahre hinweg falscher Verdächtigungen ausgesetzt zu haben. „Man soll mal nicht so tun, als ob es keine Türkenmafia gibt“, sagte im Juli ein ehemaliger Kriminaloberrat der Münchener Polizei zu den Ermittlungen nach dem Mord an dem türkischen Lebensmittelhändlers Habil Kilic. Später trat die Witwe von Kilic als Zeugin auf. Sie beklagte, die Polizei habe sie jahrelang „wie eine Verdächtige“ behandelt. Die traumatisierte Frau ist noch heute in ärztlicher Behandlung.
Weitere Abgründe taten sich auf, als frühere Nachbarn von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt aus Zwickau im Prozess auftraten. In den Aussagen wurde ein hartes Unterschichtmilieu sichtbar, eine Art Urschleim des Rechtsextremismus. Ein Ex-Nachbar verteidigte die Hetze der NPD gegen Asylbewerber, eine Frau bezeichnete ihre bräunliche Einstellung frech als „normal“. Ein früherer Nachbar bekannte sich dazu, dass bei geselligen Runden in seinem Keller ein Porträt von Adolf Hitler auf dem Fernseher stand, „das gute Bild“.
Zeugen aus der rechten Szene antworteten auf die Fragen von Richter Götzl mit dreisten Sprüchen und konnten sich an kaum etwas erinnern. Andererseits gaben einige Frauen, die sich vom Rechtsextremismus gelöst hatten, Einblicke in die dunkle Welt der Neonazis. Auf bizarre Weise erhellend waren auch die Auftritte der Eltern der toten Terroristen Mundlos und Böhnhardt. Mutter Böhnhardt und Vater Mundlos versuchten, ihre Söhne als Opfer darzustellen. Deutlich wurde jedoch, wie hilflos die Eltern waren, als die zwei pubertierenden Uwes mit ihrer Beate in den Rechtsextremismus abdrifteten.
Offen bleibt noch, was Beate Zschäpe genau nachgewiesen werden kann
Erscheint Zschäpe nach dem bisherigen Verlauf schuldig im Sinne der Anklage?
Die Bundesanwaltschaft wirft Zschäpe vor, Mitglied des NSU und bei allen Verbrechen von Mundlos und Böhnhardt die Mittäterin gewesen zu sein. Das klingt plausibel, immerhin ging Zschäpe im Januar 1998 gemeinsam mit Mundlos und Böhnhardt in den Untergrund und blieb bei ihnen bis zum Ende des NSU im November 2011. Mehrere Zeugen haben bekundet, dass Zschäpe und die beiden Männer unter falschen Namen auftraten. Außerdem war es meist Zschäpe, die mit Fantasiegeschichten gegenüber Nachbarn und Urlaubsbekannten die wahre Indentität der drei verschleierte.
Es gibt auch kein Indiz, dass vermuten ließe, eine andere Person als Zschäpe habe am 4. November 2011 die Wohnung der drei in Zwickau angezündet. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft wollte Zschäpe Beweise vernichten, nachdem sie erfahren hatte, dass Mundlos und Böhnhardt tot waren. Doch es bleibt offen, ob ihr dieser Vorsatz juristisch einwandfrei nachzuweisen ist.
Das gilt auch für den Vorwurf der Mittäterschaft bei den zehn Morden und den beiden Sprengstoffanschlägen in Köln. Es ist naheliegend, dass Zschäpe zumindest etwas wusste - im Oktober 2013 berichtete eine Polizistin im Prozess, bei Zeitungsausschnitten zu einem Mord in München und zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße, die im Zwickauer Brandschutt gefunden wurden, befänden sich Fingerabdrücke der Angeklagten. Das Indiz belastet Zschäpe, es reicht aber alleine nicht, um sie wegen Mittäterschaft an Morden und Sprengstoffanschlägen schuldig zu sprechen.
Bislang ist auch nicht hundertprozentig erwiesen, dass es Zschäpe war, die im November 2011 Exemplare der Bekenner-DVD des NSU mit dem perfiden Paulchen-Panther-Video verschickte. Theoretisch könnte das auch ein Unterstützer der Terrorzelle getan haben. Wahrscheinlich ist das nicht, doch eine Verurteilung Zschäpes wegen der massiven Vorwürfe der Bundesanwaltschaft ist nur ohne Restzweifel denkbar. Immerhin drohen der Angeklagten lebenslange Haft mit besonderer Schwere der Schuld und dann auch noch Sicherungsverwahrung.
Wie sie darüber denkt, wissen wohl nur ihre Verteidiger. Zschäpe verhält sich auch jetzt noch wie am ersten Prozesstag: sie schweigt. Ob sie sich wegen einer oder aller Taten des NSU schuldig fühlt, ob sie etwas bereut oder sich sogar von der rechten Szene distanziert hat oder doch in Treue fest zum Nationalsozialismus steht, wird möglicherweise in diesem Prozess nicht zu klären sein.
Welches Bild ergibt sich von den vier übrigen Angeklagten?
Auch die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, ehemals Vizechef der NPD in Thüringen, und André E. schweigen. Umfassend ausgesagt hat nur Carsten S. Er hatte im Frühjahr 2000 in Chemnitz die Pistole Ceska 83 an Mundlos und Böhnhardt übergeben. Die beiden töteten mit der Waffe neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft. Carsten S. hat im Prozess auch Wohlleben schwer belastet. Er soll an der Beschaffung der Ceska maßgeblich beteiligt gewesen sein. Der Angeklagte Holger G. hat am siebten Prozesstag ein schriftliches formuliertes Geständnis vorgelesen, beantwortet aber keine Fragen dazu.
Welche Konflikte tun sich bei den Prozessbeteiligten auf?
Mehrere Nebenkläger und ihre Anwälte werfen der Bundesanwaltschaft vor, sie blockiere die Aufklärung der NSU-Verbrechen und der Hintergründe. Die Ankläger hingegen pochen darauf, es gehe im Prozess nur um die Frage von „Schuld und Rechtsfolgen“. Der Streit artet bisweilen sogar in Geschrei aus. Richter Götzl unterbricht dann die Verhandlung, „damit sich die Gemüter abkühlen“. Aber er gewährt Anwälten der Nebenklage heute auch viel mehr Zeit als zu Beginn des Prozesses, Zeugen zu personellen Geflechten der rechten Szene zu befragen. Diese Anwälte wollen die Dimension der mörderischen rechten Gefahr sichtbar machen - und damit auch das Ausmaß des Versagens der Behörden nach dem Abtauchen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Die vier Vertreter der Bundesanwaltschaft blicken oft stoisch, manchmal lächelt einer, ab und zu wird auch die Frage eines Nebenklage-Anwalts beanstandet, als „nicht zur Sache gehörig“. Ansonsten geben sich die Ankläger sicher, die Hauptverhandlung werde in ihrem Sinne mit einer Verurteilung aller Angeklagten enden.
Die Hauptverhandlung wird noch mindestens bis 2015 andauern
Was steht in dem Prozess noch aus?
Die beiden Sprengstoffanschläge in Köln waren bislang nur am Rande ein Thema. Im Januar 2001 war in einem iranischen Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse ein Sprengsatz explodiert, den Mundlos oder Böhnhardt in einer Christstollendose hinterlassen hatte. Die Tochter des Ladenbetreibers erlitt schwere Verletzungen. Der zweite Anschlag, mit dem sich die Verfahrensbeteiligten noch intensiv befassen müssen, ist die Detonation einer Nagelbombe im Juni 2004 in der Keupstraße. Mehr als 20 Personen, meist türkischer Herkunft, wurden verletzt.
In die Beweisaufnahme einzuführen sind außerdem die 15 Raubüberfälle des NSU. Mundlos und Böhnhardt hatten Bankfilialen und einen Supermarkt attackiert. Die Neonazis erbeuteten insgesamt mehr als 600 000 Euro.
Im Prozess sind aber auch noch Fragen zu den Morden des NSU und zum Umfeld der Terrorzelle offen. Der Strafsenat hat dazu weitere Zeugen geladen.
Wie lange wird der Prozess noch dauern?
Die meisten Anwälte gehen davon aus, dass sie noch mindestens bis ins kommende Jahr in dieser Hauptverhandlung sitzen werden. Der Strafsenat könnte allerdings mit der Abtrennung von Teilverfahren den Prozess verkürzen. Richter Götzl hatte zu Beginn der Hauptverhandlung den Komplex Nagelbombenanschlag Keupstraße genannt. Viele Nebenklage-Anwälte reagierten empört. Aus ihrer Sicht bedeutet eine Abtrennung, dass ihr Fall dann nach einem Urteil im NSU-Prozess kaum noch eine Bedeutung hätte und eingestellt würde. Richter Götzl klammert denn auch das heikle Thema erstmal aus.
Wie groß ist das Medieninteresse noch?
Die Aufregung war gewaltig, als vor einem Jahr in München der NSU-Prozess begann. Mehr als 120 Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Rundfunksender, Online-Blogger sowie freie Journalisten hatten sich angemeldet. Im Saal A 101 des Justizbunkers an der Nymphenburger Straße ist aber auf der Zuschauerempore nur ein Block mit 50 Plätzen für die Medien reserviert. Und nach dem Andrang in den ersten Verhandlungstagen reicht er heute meistens aus. In der Regel sind 30 bis 40 Journalisten sind anwesend, einige Medien haben die durchgängige Beobachtung des Prozesses eingestellt.
Auch türkische Journalisten sieht man wenig. Ein Reporter des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TRT erscheint täglich, manchmal sitzen auch Kollegen der Zeitungen „Zaman“ und „Sabah“ auf der Tribüne. „Sabah“ hatte vor Prozessbeginn mit einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht erreicht, dass für Medien aus den Herkunftsländern der nicht-deutschen Opfer des NSU-Terrors Plätze auf der Empore reserviert werden. Beim ersten Akkreditierungsverfahren des OLG hatten türkische Journalisten keine festen Sitze bekommen. Die türkischen Medien hatten den Start der Prozedur nach dem „Windhund-Prinzip“ zu spät mitbekommen. Das OLG verloste dann nach der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde von „Sabah“ alle festen Plätze für Journalisten. Dabei verloren manche deutschen Medien die sicher geglaubte Akkreditierung aus dem ersten Verfahren. Die Empörung ist aber verhallt, genauso wie der Ruf nach einer Videoübertragung des Prozesses in einen Nebenraum. Bei den Plädoyers und der Urteilsverkündung dürfte es allerdings im Saal A 101 nochmal eng werden