Strafrecht zur "Aufarbeitung": NSU- und Loveparade-Prozess bringen die Gerichte an ihre Grenzen
Die Erwartung ist hoch: Beim NSU- und beim Loveparade-Prozess soll einer Gerechtigkeit genüge getan werden. Aber das kann das Strafrecht nicht leisten. Eine Analyse.
Ehe mit dem NSU-Prozess der eine Großprozess sein Ende findet, hat in Duisburg mit der Anklage wegen des Loveparade-Unglücks das nächste Mammutverfahren angefangen. Aus dem ersten sind bereits enttäuschte Bilanzen zu hören. Die erwartete Aufklärung sei ausgeblieben, heißt es. Es gibt zwar eine mutmaßlich Schuldige, aber keine Gewissheit über Taten und Beteiligte des Mordkomplotts.
Auch das Duisburger Verfahren wird nun als „juristische Aufarbeitung“ geschildert, die in diesem Fall nötig sein soll angesichts des Ausmaßes der Katastrophe und der Leiden der Opfer. Bereits im Sprachgebrauch offenbaren sich Erwartungen, die kaum zu erfüllen sind. Strafprozesse sind Verfahren, um individuelle Schuld festzustellen. Daraus mag sich ein Ertrag ergeben, der Geschädigten und einem erschütterten Gemeinwesen helfen kann, das Geschehen zu bewältigen und vielleicht künftiges Unheil zu vermeiden. Aber es gibt keine Garantie dafür.
Es handelt sich wohl auch eher nicht um eine „Aufarbeitung“. Terror und Tragödien, Katastrophen und Verluste kann nur jeder für sich „aufarbeiten“, je nach Mitteln, Möglichkeiten und Seelenzustand. Staatliche Institutionen können dazu eine Beitrag leisten, mit Geld, Verständnis, Fürsorge und, ja, auch Aufklärung und Ursachenforschung. Ein Strafprozess jedoch vermag all dies nicht zu ersetzen. Die sich häufiger einstellende allgemeine Enttäuschung, die mit dem Umfang der modernen Großverfahren ebenfalls zu wachsen scheint, gehört folglich zum Programm.
Die erste Instanz sah keine Chance für eine Verurteilung
Das Loveparade-Verfahren war schon vor dem Start der Hauptverhandlung ein Beleg dafür. An politisch Verantwortlichen wie dem früheren Oberbürgermeister ging der strafrechtliche Vorwurf ebenso vorbei wie an dem Chef der Veranstalterfirma. Gegen Verdächtige aus der zweiten Reihe, die jetzt auf der Anklagebank sitzen, scheiterte die Staatsanwaltschaft im ersten Anlauf, weil das damals noch zuständige Gericht nur geringe Chancen für eine Verurteilung sah. Zu komplex erschien ihm das Zusammenspiel der Faktoren, die in das Verhängnis geführt hatten. Ein Ergebnis, das als unerträglich empfunden wurde, weshalb es nach Protesten und Unterschriftenlisten mit Zehntausenden Namen korrigiert wurde.
Ob diese Hartnäckigkeit belohnt wird, erscheint fraglich, schon angesichts des Termindrucks. In drei Jahren droht Verjährung. Der Bürgermeister ist abgewählt, eine Loveparade wird es in Deutschland nie mehr geben. Konsequenzen wurden also gezogen. Es mangelt auch nicht an Tatsachenfeststellungen. Wer möchte, kann sich bis ins Detail in öffentlich zugänglichem Material über Fehler und Versäumnisse der Zuständigen informieren. Geheimdienste sind nicht involviert. Anders als im NSU-Komplex gibt es daher Wahrheit satt. Was also wird von der nunmehr endlich stattfindenden juristischen Aufarbeitung eigentlich noch erhofft? Gerechtigkeit?
Gerecht könnten auch Freisprüche sein, die absehbar, wie die erste Weigerung des Landgerichts, die Anklage zur Verhandlung zuzulassen, als „Schlag ins Gesicht der Opfer“ interpretiert würden. Insofern geht es wohl um anderes als nur Aufarbeitung oder Gerechtigkeit. Tatsächlich hat sich der öffentliche Umgang mit dem Strafrecht in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Aus der Entdeckung des Täters, die rund um die siebziger Jahre in liberalen Strafrechtsreformen und therapeutischen Konzepten mündete, ist eine Hinwendung zum Opfer geworden. Das Instrument der Nebenklage wurde geschärft und leichter verfügbar gemacht, zugleich das Strafrecht als Schutzversprechen etabliert. Nicht die Ahndung von Schuld, sondern die Abwehr von Gefahr rückte in den Vordergrund. Erkannte Lücken sind umgehend zu schließen, vom „Nein heißt Nein“ bei der Vergewaltigung über illegale Autorennen bis zu Anti-Terror-Tatbeständen.
Auch Strafrecht muss sich wandeln
Dass vieles, was zur Straftat erklärt wird und strafwürdig ist, ohnehin bereits sanktioniert wird, fällt unter den Tisch. Strafrecht ist wieder so politisch geworden wie in den siebziger Jahren, nur unter neuen Vorzeichen. Damals wurde um Verständnis für Täter und das Verstehen von Taten geworben (nicht um Entschuldigung), heute wird das Mitgefühl für Opfer verstärkt. Die Strategie der Kriminalisierung kann sich indes nur als effektiv erweisen, wenn Schuldige präsentiert werden. Schuld bedeutet aktuell, ein Risiko oder ein Missstand in den Griff bekommen zu haben. Ein Freispruch oder die Einstellung eines Verfahrens heißt, das Risiko bleibt.
Auch Strafrecht muss sich wandeln. Die Dialektik aus immer höheren Erwartungen und immer größeren Enttäuschungen könnte jedoch auf Abwege führen. Auf welche, lässt sich am Loveparade-Verfahren ebenso zeigen: Es war Wahnsinn, Hunderttausende durch einen Tunnel zu lotsen, dessen Aus-und Eingangsrampe zum Festplatz tanzende Massen an kreisenden Umzugswagen verstopfen würden. Trotzdem haben alle mitgemacht und sehenden Auges Verantwortung von sich weggeschoben. Warum also eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung? Warum nicht wegen Mord und Totschlag?