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Für die erwartete große Zahl der Besucher wurde ein Gerichtssaal auf dem Düsseldorfer Messegelände eingerichtet.
© Ina Fassbender/AFP

Loveparade-Prozess: Sind die Falschen angeklagt?

Wer war verantwortlich für die Loveparade-Katastrophe im Juli 2010? Das wird nun vor Gericht verhandelt. Der Prozess beginnt enttäuschend für die Hinterbliebenen.

Als der Student T. sich in Sicherheit wähnte, als sich Notärzte und Psychologen um ihn kümmerten, an jenem unglückseligen Sommertag im Juli vor sieben Jahren, blickte er an sich herab. Er sah tiefe Kratz- und Beißspuren, und in diesem Moment wurde ihm klar: K., der der jüngste der insgesamt 21 Toten der Loveparade-Katastrophe sein würde, musste direkt neben ihm gestorben sein. Zuvor hatte er sich offenbar an ihm festkrallen wollen, irgendwie an ihm dran bleiben wollen, muss gebissen und gezogen haben, um nicht unterzugehen. Vergeblich.

T. kann an diesem Freitagmorgen nicht auf dem Messegelände in Düsseldorf sein, wo in einem eigens für die große Zahl der zu erwartenden Besucher eingerichteten provisorischen Gerichtssaal nach so vielen Jahren die juristische Aufarbeitung der Ereignisse beginnt. 21 Tote, die meisten von ihnen sind erstickt, mehr als 550 Verletzte und eine ungewisse, größere Anzahl an Traumatisierten hat diese Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg hinterlassen. Und die Frage, die das Gerichtsverfahren nun beantworten soll: Wie konnte es dazu kommen?

T. gehört zu den schwer Traumatisierten. In Gebäuden oder vollen Räumen bekommt er Angstzustände.

Die lange Zeit seit 2010 ist an niemandem spurlos vorbeigegangen

Jürgen Widera dagegen steht schon mitten im großen Saal der sogenannten Außenstelle des Landgerichts hier in Düsseldorf. Er hat mit anderen im Auftrag der Staatsanwaltschaft dafür gesorgt, dass Notfallseelsorger an jedem Prozesstag psychologische Betreuung anbieten. Für die Hinterbliebenen oder Opfer genauso wie für die Angeklagten und deren Familien. Widera ist gut zu erkennen unter all den Leuten, die sich hier versammeln, denn er ist groß und hat schlohweißes Haar. Im Saal rechts sitzen die vielen Verteidiger in einem abgetrennten Bereich, links ebenfalls abgetrennt die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger, und in der Mitte ist noch Platz für rund 385 Zuschauer.

Widera ist nicht nur evangelischer Pfarrer, sondern seit 2013 der Opferbeauftragte, Ombudsmann und Mitinitiator einer Nachsorgestiftung, die das Gedenken wach hält. Der 63-Jährige erzählt nicht nur von T., er kennt alle Geschichten, mit denen sich die Hinterbliebenen seit Jahren quälen. Unterhält man sich mit ihm, dann versucht er stets diskret und sachlich zu bleiben, obwohl man an seinen Augen ablesen kann, dass die lange Zeit seit 2010 und das Warten auf den Prozess auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen sind.

Aber jetzt, gegen 8.30 Uhr am Freitagmorgen, ist er irritiert, denn der erwartete Andrang ist weitgehend ausgeblieben, sehr viele Plätze bleiben leer. Dort, wo sich die Hinterbliebenen und Opfer in kleinen Gruppen unterhalten, ist die große Enttäuschung darüber deutlich herauszuhören.

Am frühen Nachmittag verlassen die ersten Zuschauer das Gebäude

Sie wird im gesamten Verlauf des ersten Tages nicht mehr weichen, sondern immer größer werden, am frühen Nachmittag verlassen die ersten Zuschauer das Gebäude. Im Gerichtssaal liefern sich Verteidiger und Nebenkläger mit dem Vorsitzenden Richter eine erste Verfahrensschlacht. Befangenheitsanträge gegen Schöffen, deren Kinder bei der Loveparade waren, werden gestellt und diskutiert; Verteidiger versuchen Besetzungsrügen anzubringen, durch die das gesamte Gericht in Frage stehen würde. Erst am späten Nachmittag wird überhaupt die Anklage verlesen.

Widera schüttelt zwischendrin immer wieder den Kopf und muss diejenigen trösten, die aus anderen Ländern angereist sind, eine Mutter aus Italien, Eltern aus Spanien und Holland. Er selbst hat zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, damals waren sie 17 und 20 Jahre alt, und die Mutter drängte beide, unbedingt zur Loveparade zu gehen, denn wann würde wieder mal ein so großes Ereignis in Duisburg stattfinden – dieser Stadt ohne Geld, mit hohen Schulden. Doch Wideras Kinder entschieden sich überraschend für die Familienfeier, die zeitgleich in Köln stattfand, von wo Widera vor 30 Jahren nach Duisburg-Rheinhausen zog. Als sie aus Köln wiederkamen und erfuhren, was passiert war, blieb der Mutter kurz das Herz stehen: „Stell’ dir nur vor, die Kinder wären gegangen, ich hätte mir mein Leben lang Vorwürfe gemacht.“

Bis heute ist nicht klar, was genau passiert ist zwischen 16 und 18 Uhr, die ersten Toten wurden um 17.02 Uhr gemeldet. Bisher ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass zu viele Menschen auf das Gelände strömten. Das hatte auch ein erstes Gutachten eines britischen Panikforschers angedeutet. Das Landgericht jedoch lehnte es zunächst ab, weil man dem Gutachter Parteinahme attestierte. Deshalb wurde der Prozess erst ein Jahr später nach Anordnung des Oberlandesgerichts Düsseldorf eröffnet.

Nur durch einen Tunnel kam man auf das Festivalgelände

Ein neuer Gutachter kommt nun zu dem Schluss, dass viel weniger Menschen als angenommen zur Loveparade kamen, maximal 118.000 bis 17 Uhr, obwohl der Chef des Veranstalters am Tag noch von mehr als einer Million Besuchern sprach. Das aber bedeutet, dass am Tag selbst sehr viel schief gelaufen sein muss, allein was die Führung der Masse durch Polizei und Veranstalter angeht. Die Besucher konnten ausschließlich über den 400 Meter langen und 18 Meter breiten Karl-Lehr-Tunnel zum umzäunten Festivalgelände gelangen.

Einer, der das Nadelöhr überlebt hat, ist D. Er sagt, er habe die ganze Zeit ein schlechtes Gefühl gehabt, denn die Veranstaltung sei miserabel vorbereitet gewesen, niemand wusste, wo es langgeht. Auch er sitzt im Gerichtssaal, früh am Morgen ist er aus Braunschweig angereist, um pünktlich zu sein. Er weiß noch nicht, dass auch er auf der Zeugenliste der Staatsanwaltschaft steht.

D. hatte damals gar nicht feiern wollen, sondern für ein Uni-Projekt fotografiert und Videos gedreht, seine Aussage gehört zu den, wie die Polizei ihm selbst sagte, „konkretesten“ in den Tagen nach der Katastrophe. Der Vorsitzende Richter aber wird ihn und die als freie Journalistin akkreditierte Sprecherin des Loveparade-Veranstalters Rainer Schaller später auffordern, freiwillig den Saal zu verlassen, weil beide als potenzielle Zeugen sonst beeinflusst werden könnten.

Auf 111 Tage hat der Richter den Prozess angesetzt, spätestens bis zum 24. Juli 2020 muss ein Urteil in erster Instanz fallen, sonst greift die Verjährungsfrist. Neben der Staatsanwaltschaft begleiten 60 Nebenkläger und ihre Anwälte das Verfahren. Die Angeklagten sind keine bekannten Gesichter, nicht Rainer Schaller, der bis heute sein Unternehmen McFit führt, nicht der Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) und auch keine Vertreter der Polizei sind unter ihnen; direkt nach dem Unglück hatte der gerade ins Amt gekommene Innenminister Ralf Jäger (SPD) gesagt, die Polizei habe nichts falsch gemacht. Auch darüber ärgern sich die Betroffenen bis heute. Nun müssen sich sechs Mitarbeiter des Bauamtes und vier Mitarbeiter von Lopavent verantworten. Der Vorwurf lautet auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung.

"Es geht zunächst um Klarheit, das ist die ganz große Hoffnung“

Widera selbst ist hin- und hergerissen, er weiß, wie sehr sich die Hinterbliebenen einen Prozess gewünscht haben, aber er weiß auch, dass die Erwartungen sehr hoch sind. Es sind vollkommen verständliche Erwartungen, aber sie könnten enttäuscht werden. Widera sagt: „Es geht zunächst vor allem um Klarheit, das ist die ganz große Hoffnung.“

Die Eltern wollen genau wissen, wie ihre Kinder gestorben sind. Nur wenige haben von ihren Anwälten oder in Gesprächen mit den Pathologen durch glaubhafte Schilderungen Gewissheit bekommen. Eine Familie wurde damit getröstet, dass ihr Kind mit großer Wahrscheinlichkeit schnell tot war, nicht gelitten habe: Genickbruch. Trotz der monströsen Tragik einer solchen Schilderung – genau das hat den Eltern geholfen.

Dann, sagt Widera, gehe es aber auch um Gerechtigkeit. Nicht unbedingt eine Verurteilung von Angeklagten sei das Ziel der Familien, sondern die Frage: Wer war verantwortlich, wer hat Fehler gemacht? Viele Eltern seien vor allem aus diesem Grund überhaupt Nebenkläger, „weil sie das Gefühl haben, sie sind das ihren Kindern schuldig“. Eine Mutter sagte: „Ich muss die Ehre meines Kindes wiederherstellen.“

Im Gerichtssaal, neben den Angeklagten, sitzt einer, der diese Intentionen versteht. Volker Römermann ist Rechtsanwalt und Vorstand von fünf Kanzleien für Wirtschaftsrecht in deutschen Städten. Er lehrt zudem an der Berliner Humboldt-Universität, etwa im Bereich Verhandlungsführung. Mit seiner Kanzlei vertritt er einen der Angeklagten aus der Firma Lopavent. Einen Tag vor dem Prozess fährt Römermann von Hannover nach Köln und nimmt sich viel Zeit für ein Telefonat. Er sagt, dass er das Interesse an einer Aufklärung des tragischen Geschehens absolut nachvollziehen könne. Aber: „Strafverfahren sind jedoch weder dazu da, historische Geschehen objektiv aufzuarbeiten noch moralische Fragen zu beantworten.“ Im Gericht sitzt sein Mandant ganz in schwarz gekleidet neben ihm.

Es gibt Verantwortliche, die gar nicht im Gericht sitzen

Römermann und Widera kennen sich nicht, sind sich nie begegnet. Im Gerichtssaal sitzen sie rund 20 Meter voneinander entfernt, und wenn man so will, stehen sie auch auf gegnerischen Seiten. Dennoch machen sie sich unabhängig voneinander ähnliche Gedanken. Beide sagen, dass es sicherlich Verantwortliche gebe, die gar nicht im Gericht sitzen, die mindestens „moralische Schuld“ auf sich geladen haben. Jeder weiß, wen sie meinen. Sie sagen auch sinngemäß: Sollten am Ende für die Angeklagten nur sehr kleine Strafen herauskommen, die sich auf technische, organisatorische Details beziehen – wem ist dann damit gedient?

Die Strafverteidiger, wie Römermann oder auch der Kölner Rechtsanwalt Björn Gercke, der ebenfalls einen Lopavent-Mitarbeiter verteidigt, wissen um die große emotionale Dimension. Sie wollen vermeiden, die eigenen Mandanten auch noch als Opfer darzustellen. Aber womöglich sind sie es. Römermann sagt: „Ich habe die Hoffnung, dass die Sachaufklärung im Vordergrund stehen wird und nicht überlagert wird durch die auf allen Seiten verständlicherweise vorhandenen Emotionen.“

Doch emotional wird es allein deshalb schon, weil es für die Hinterbliebenen kaum nachvollziehbar ist, wieso der erste Prozesstag so verwirrend ist.

Zwischen Angeklagten und Verletzten oder Hinterbliebenen ist es nie zu einer direkten Begegnung gekommen, aber Widera ahnt, dass auch auf Seiten der Angeklagten nichts mehr so ist wie es mal war. „Die tun mir leid“, sagt er. Einer der Angeklagten lebt gar nicht im Ruhrgebiet, und bevor er im Jahr 2010 für die Lopavent-Firma als Freelancer gearbeitet hat, war er deutschlandweit ein anerkannter Fachmann für die Organisation von großen, auch politischen Events. Nach der Katastrophe von Duisburg war der Mann, wie es aus seinem Umfeld heißt, „vollständig gebrochen“. Da war bald keine Wut mehr auf die womöglich eigentlichen Schuldigen oder auf das Schicksal, sondern nur noch Leere. In der Kita wurden seine Kinder gefragt, ob ihr Vater ein Mörder sei, bis heute wacht er nachts auf, weil die Träume nicht aufhören wollen.

Seine größte Sorge: „eine zweite Traumatisierung“ durch den Prozess

Ähnlich erging es auch Römermanns und Gerckes Mandanten, beide Verteidiger geben sich von deren Unschuld vollkommen überzeugt. Römermann sagt: „Unser Mandant hat volles Verständnis für die Betroffenen. Das, was geschehen ist, beschäftigt auch ihn seit sieben Jahren, Tag und Nacht, und es wird auch nicht enden. Aus meiner Sicht, gerade weil er zu Unrecht angeklagt wurde.“ Auch Pfarrer Jürgen Widera weiß um das tief sitzende Gefühl von denen, die am Freitag im Gericht sitzen: Es werden die Falschen angeklagt!

Der Prozess wird lange dauern, und wenn schon am ersten Tag das Zuschauerinteresse eher klein ist, wie wird es erst in den nächsten Wochen und Monaten aussehen? Widera antwortet gar nicht erst auf diese Frage, die ihm ein Vater in einer der zahlreichen Sitzungspausen stellt. Seine größte Sorge könnte eintreffen, „eine zweite Traumatisierung“ durch diesen Prozess.

Volker Römermann sagt, dass es in einem Strafprozess nicht darum gehe, ob bestimmte Personen strafrechtlich verurteilt werden oder nicht. Es gehe gerade nicht um allgemeine politische, technische oder historische Wahrheiten. Deshalb findet er, dass sich „eher ein Untersuchungsausschuss geeignet“ hätte, um die Geschehnisse aufzuarbeiten. Ähnlich sieht das auch Widera. Sein Vorbild: die unabhängige Kommission, die sich viele Jahre nach der tödlichen Massenpanik 1989 im Hillsborough Stadion im britischen Sheffield gegründet hatte. Die strafrechtliche Relevanz sei den meisten Hinterbliebenen egal, sie wollten nur wissen, „wer was zu verantworten hat“.

Der Student T. hatte mit seiner Freundin den Loveparade-Besucher K. im Zug kennengelernt, T. war Anfang 20, K. 17. Nach der Katastrophe und den Vorwürfen, die sich T. wegen K. machte, war kein Studium mehr möglich, seine Freundin trennte sich von ihm, bis heute hat er große Mühe, die eigene Wohnung zu verlassen. Die Therapeutin sagt, sie hoffe ihn bald so stabil zu bekommen, dass er endlich einen längeren Klinikaufenthalt durchstehen könne.

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