Europapolitiker Hofreiter im Interview: „Nord Stream 2 ist tot, wenn es zu einer Invasion kommt“
Die EU muss für alle Szenarien in der Ukraine-Krise gerüstet sein. Das fordert der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter (Grüne).
Herr Hofreiter, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen benennt die Details möglicher Konsequenzen für Russland im Fall einer Invasion in der Ukraine inzwischen ziemlich deutlich. Sollte nun nicht auch die Bundesregierung klarer erklären, wie mögliche Sanktionen aussehen werden?
Es gibt gar keine Zweifel daran, dass es ganz massive Konsequenzen geben wird, falls Russland in der Ukraine einmarschiert. Es muss aber in einem gewissen Rahmen offengehalten werden, wie massiv die Sanktionen ausfallen werden, je nachdem wie Russland agiert. Zudem ist es wichtig, dass der Westen weiter zusammenhält. Deshalb hat Scholz bei seinen Besuchen in Kiew und Moskau vieles richtig gemacht.
Aber sollte Scholz nicht auch klar aussprechen, dass eine Invasion das Aus für Nord Stream 2 bedeuten würde?
Es ist allen bewusst, dass Nord Stream 2 tot ist, wenn es zu einer Invasion kommt.
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Von der Leyen hat erklärt, dass Russland im Fall einer Aggression praktisch von den Finanzmärkten abgeschnitten würde. Sollte das den Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift bedeuten?
Falls es wirklich zu einer Invasion – die hoffentlich verhindert werden kann – kommen sollte, dann liegen schlichtweg alle Optionen auf dem Tisch.
Ist die EU bei den möglichen Gegenmaßnahmen wirklich gut aufgestellt? Ist sie beispielsweise auch auf den Fall vorbereitet, dass Russlands Präsident Putin zwar von einer Invasion absieht, aber dafür die Cyber-Angriffe gegen die Ukraine verschärft?
Auf das Ausmaß von Cyber-Angriffen ist man noch nicht ausreichend vorbereitet. Schon jetzt sind durch die Verunsicherung von Investoren erhebliche Schäden auf Seiten der ukrainischen Wirtschaft aufgetreten. Deshalb sollten sich sowohl die Bundesregierung als auch die EU-Kommission darauf einstellen, die ukrainische Wirtschaft noch einmal stärker zu stabilisieren.
Aber könnten die EU-Staaten nicht doch von weiteren Schritten Putins gegen die Ukraine überrascht werden, die unterhalb der Schwelle eines Einmarsches liegen?
Überrascht ist man bei Putin von nichts mehr. Es stellt sich die Frage, ob man in der Lage ist, schnell genug und angemessen zu reagieren. Bei einem so schwer berechenbaren Gegner wie Putin betrifft das ja alle. Aus diesem Grund gibt es auch eine Debatte darüber, ob es klug ist, wenn die USA immer wieder die Kriegspläne Putins offenlegen, um ihn möglicherweise genau davon abzuhalten.
Und, ist es klug?
Ich gehe erst einmal davon aus, dass die zugrunde liegenden Geheimdienstinformationen so stimmen. Deshalb ist mein Eindruck, dass es klug ist.
Sie haben den Punkt der Schnelligkeit bei EU-Entscheidungen angesprochen. Bei Sanktionsbeschlüssen gilt in der EU das Einstimmigkeitsprinzip. Sollte sich die Gemeinschaft davon verabschieden?
Der Vorteil der Einstimmigkeit besteht darin, dass sämtliche 27 EU-Staaten anschließend hinter den Entscheidungen stehen. Der Nachteil liegt darin, dass man schwerfälliger und leichter erpressbar wird. Ich bin der Meinung, dass man auch bei schwierigen Entscheidungen vom Einstimmigkeitsprinzip abrücken sollte. Es wäre sinnvoll, Sanktionsentscheidungen künftig mit einer Zweidrittel-Mehrheit zu fällen.
Sanktionen gegen Russland sind die eine Seite der Medaille. Der Dialog mit Moskau ist die andere Seite. War es im Nachhinein falsch, dass die übrigen EU-Staaten im vergangenen Sommer nicht dem Vorschlag der damaligen Kanzlerin Merkel und Frankreichs Staatschef Macron gefolgt sind, auf höchster Ebene einen EU-Russland-Gipfel abzuhalten?
Im Rückblick betrachtet, war die Initiative von Merkel und Macron vielleicht die richtige. Trotzdem ist es völlig eindeutig, dass Russland der Aggressor ist. Das Verhalten Moskaus gegenüber der Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Man muss sich vor Augen führen, dass durch den jahrelangen Krieg im Osten der Ukraine inzwischen mehr als 13.000 Menschen gestorben sind.