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Kanzler Olaf Scholz (SPD) spricht bei der 58. Münchner Sicherheitskonferenz.
© Tobias Hase/dpa

„Wir sind nicht naiv“: Kanzler Scholz taucht in Putins Welt ein

Der Kanzler verspricht bei der Sicherheitskonferenz eine Aufrüstung im Lichte der russischen Aggression – und versucht Putins Absichten zu entschlüsseln.

Es ist seine wichtigste Rede bisher. US-Vizepräsidentin Kamala Harris ist hier bei der Münchner Sicherheitskonferenz, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dutzende weitere Spitzenpolitiker aus aller Welt. Sehr intensiv haben sie die Grundsatzrede vorbereitet, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird an diesem Tage deutlicher als bisher darlegen, dass er sich über Wladimir Putin keine Illusionen mehr macht, dass er in einer anderen Welt lebt. Und dass die Lage brandgefährlich ist, ein Krisentreffen reiht sich an das nächste.

Scholz macht deutlich, dass der Westen sich in Sachen Ukraine nicht von Russland erpressen lässt. Zwar betont er wie beim Besuch in Moskau und in Kiew, ein NATO-Beitritt stehe jetzt oder in den nächsten Jahren nicht auf der Tagesordnung. Aber Putin hätte so eine Art Moratorium oder dauerhafte Neurealisierung der Ukraine gerne schriftlich - um sie dann womöglich in seinen Einflussbereich einzuverleiben)

Doch Scholz macht deutlich: Die in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verbrieften Grundprinzipien (OSZE) stünden nicht zur Disposition. „Russland hat ihnen zugestimmt. Und zu ihnen gehört auch das Recht auf freie Bündniswahl.“ Und Scholz betont in München: „Russland hat die Frage einer möglichen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zum casus belli erhoben. Das ist paradox: denn hierzu steht gar keine Entscheidung an.“

Übrigens benutzt Scholz – obwohl es zunächst im Redemanuskript stand – nicht den Begriff „Ukraine-Krise“: Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte hierzu am Vortag bei der Sicherheitskonferenz betont, angesichts des russischen Aufmarsches und der Aggression gegen die Ukraine sei es falsch von einer Ukraine-Krise zu sprechen. „Sie ist eine Russland-Krise."

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Flugzeuge, die fliegen und Schiffe, die in See stechen können

Scholz‘ wichtigste Botschaft, ohne es explizit zu sagen: Deutschland ist bereit, das NATO-Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben, ernsthaft zu schaffen – der Kanzler ist zur Aufrüstung und Modernisierung der Bundeswehr bereit, da die russische Bedrohung eine für ganz Europa und Deutschland ist. „Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind für ihre gefährlichen Aufgaben – das muss ein Land unserer Größe, das besondere Verantwortung trägt in Europa, leisten können. Das schulden wir auch unseren Verbündeten in der NATO.“

Und er betont beim wichtigsten Treffen zur internationalen Sicherheitspolitik, dass Deutschland bei einem Angriff gegen einen NATO-Partner seine militärischen Beistandspflichten erfüllen  werde. „Ihnen sage ich: Deutschland steht zur Garantie des Artikels 5 – ohne Wenn und Aber. Und wir üben auch praktische Solidarität – aktuell etwa durch eine größere Präsenz der Bundeswehr im Baltikum oder beim Air Policing der NATO im Südosten der Allianz.“

Scholz hat sich als Chef-Redenschreiber den früheren Redenschreiber von Außenminister Heiko Maas, den Juristen Christian Doktor, geholt. Es ist eine Rede, die einige Pflöcke einschlägt – und Scholz ist es wichtig, deutlich zu machen, dass er, der immer ans Verhandeln, die Kraft des Kompromisses glaubt, sich über die Zeitenwende aber keine Illusionen macht.

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Die Münchner Sicherheitskonferenz im Hotel Bayerischer Hof findet trotz Corona in Präsenz statt.
Die Münchner Sicherheitskonferenz im Hotel Bayerischer Hof findet trotz Corona in Präsenz statt.
© Sven Hoppe/dpa

"Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen sein."

Er spricht von einem geopolitischen Gezeitenwechsel. „Für mich bedeutet das: Die Welt des 21. Jahrhunderts ist weder uni- noch bipolar. Sie wird unterschiedliche Machtzentren haben. Problematisch wird es, wo der Bedeutungszuwachs in die Forderung nach Gefolgschaft oder Einflusszonen umgemünzt wird“, betont Scholz mit Blick auf Russland, aber wohl auch auf China. „Wenn universelle Regeln, die man gestern mitgetragen hat, heute zur Seite gewischt werden. Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen sein.“ Der letzte Satz ist in Scholz‘ Manuskript fett markiert. Hier gibt es größeren Applaus.

Ähnlich wie jüngst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Abrechnung mit Putin („ Lösen sie die Schlinge um den Hals der Ukraine“) ist Scholz zur Verteidigung der westlichen Demokratie und ihrer Werte mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entschlossen: „Länder sind stärker, wenn sie die Würde des Menschen achten, anstatt sie mit Füßen zu treten.“

Nachdem kurz vor seinem Moskau-Besuch Russland einen Teilabzug seiner Truppen angekündigt hatte, sieht die Lage nun wieder ganz anders aus.

In der Ostukraine sieht es so aus, als solle ein Interventionsgrund provoziert werden, US-Präsident Biden glaubt, dass Putin die ganze Ukraine einnehmen und einen schnellen Vormarsch auf Kiew anstrebt.

„In Europa droht wieder ein Krieg. Und das Risiko ist alles andere als gebannt“, bilanziert Scholz nüchtern. Und wiederholt seine Drohkulisse: Jede weitere Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine „wird hohe Kosten haben für Russland – politisch, ökonomisch und geostrategisch haben". Das Motto laute: "So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein - das ist der Anspruch". Der Verteidigungsexperte und Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität München, Carlo Masala lobt den Auftritt von Scholz im Bayerischen Hof als „bockstarke Rede“.

NATO, plötzlich zusammengeschweißt

Diese Konferenz ist vor allem auch ein transatlantischer Schulterschluss. Wo der französische Präsident Emmanuel Macron die NATO vor nicht allzu langer Zeit noh als „hirntot“ bezeichnete, schweißt die Krise die Partner, auch in Europa, wieder stärker zusammen. Der Westen werde klar gegenhalten, wo der Erhalt der multilateralen Ordnung bedroht ist oder Menschenrechte mit Füßen getreten werde, so Scholz.

„Je enger Europa und Nordamerika sich abstimmen, umso erfolgreicher werden wir sein.“ Im Namen aller westlichen Partner wird US-Vizepräsidentin Kamala Harris in ihrer Rede später Russland mit "nie dagewesenen" Sanktionen im Falle eines Angriffes auf die Ukraine drohten. Dazu zählten auch finanzielle Sanktionen. Zudem würden die östlichen Nato-Partner militärisch unterstützt, sagt Harris auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Wladimir Putin und Olaf Scholz beim Gespräch im Kreml
Wladimir Putin und Olaf Scholz beim Gespräch im Kreml
© imago images/ITAR-TASS

Der Kanzler und sein Dialog mit Putin im Kreml

Am interessantesten ist bei Scholz der Teil nach seiner Rede, als er sich den Fragen von Konferenzleiter Wolfgang Ischinger und Konferenzteilnehmern stellt. Scholz versucht in dieser Runde Putin zu lesen – und gibt Einblicke in ihr vierstündiges Gespräch im Kreml. Scholz erinnert an Putins Aufsatz vom vergangenen Jahr, in dem er Russen, Ukrainer und Belarussen als historisch gesehen „ein Volk“ bezeichnet, das aber heute vom Westen auseinanderdividiert werde. Russland, Belarus und Ukraine sieht er eine russische Nation mit gemeinsamer Heimat. Und Putin verweist auf eine Bezeichnung von Kiew als "Mutter aller russischen Städte" (hier der ganze Aufsatz).

Die Wiederauferstehung Russlands als Großmacht scheint seine historische Mission zu sein. Dieser Tage lesen einige den auf der Homepage des Kreml veröffentlichten Aufsatz nochmal ganz genau.

Putin hat sich ja als Historiker betätigt

„Putin hat sich ja als Historiker betätigt und Texte geschrieben“, meint Scholz. „Das hat auch im Gespräch mit ihm eine große Rolle gespielt.“ Der Frieden in Europa könne aber nur gewahrt werden, „wenn die Grenzen nicht mehr verschoben, wenn sie akzeptiert bleiben.“ Und nochmal betont er: „Wir dürfen nicht naiv sein, das ist entscheidend.“ Die NATO sei eben kein aggressives Bündnis. „Er argumentiert immer mit dem Krieg in Ex-Jugoslawien“, gibt Scholz seine Konversation mit Putin wieder.

Völkermord im Donbass? "Lächerlich"

„Ich argumentiere: Das war ein Völkermord. Sein Argument ist dann, dass im Donbass ein Völkermord stattfindet, was lächerlich ist, wenn ich das so ganz deutlich sagen darf.“ 

Nehme man Putin beim Wort, „dann würde uns das nicht optimistisch in die Zukunft blicken lassen“ Scholz betont: „Ich weigere mich das aber zu tun, wir können Grenzen nicht verschieben, wir müssen die Souveränität von Staaten akzeptieren.“

Das Problem für ihn und die anderen Entscheidungsträger im Saal – was wenn es Putin gar nicht um die Nato-Mitgliedschaft geht, sondern um das Umsetzen des in dem Aufsatz Skizzierten, das sein Ziel das Einverleiben der ganzen Ukraine ist? Belarus ist de facto schon zum Satellitenstaat Putins geworden.

Ende der Illusionen über Putin

Es ist ein Tag der Desillusion in München – und keiner kann einschätzen, wie es ausgeht, Putins Spiel. Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann betont nach dem Auftritt, es sei wichtig,  dass Scholz klar gemacht habe, dass Putin in seiner eigenen Welt lebt. Auch sie hat wenig Hoffnung „Ich glaube, dass er eiskalt ist.“

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