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Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Sonder-Fraktionssitzung der CDU
© dpa/Michael Kappeler

Asylstreit in der Union: Nie zuvor gab es unter Merkel ein solches Zerwürfnis

Der Asylstreit trifft die Union ins Mark. Der Donnerstag ist eine Machtprobe aus Drohungen und Ultimaten. Eine Rekonstruktion.

Von Antje Sirleschtov

Es ist Donnerstagvormittag und Alexander Dobrindt sucht einen wirklich großen Satz für diesen Tag. Es tobt zwischen Horst Seehofer und der Kanzlerin ein erbitterter Streit. Es geht um Angela Merkels fast drei Jahre alte Anweisung, Flüchtlinge an der deutschen Grenze nicht mehr zurückzuweisen, selbst wenn sie schon in einem anderen EU-Land registriert sind. So gebietet es eigentlich das europäische Recht. Doch Merkel hatte dessen Vollzug ausgesetzt, seither dürfen auch anderswo registrierte Flüchtlinge nach Deutschland. Nun will der Innenminister, will die CSU, diese Entscheidung rückgängig machen.

Eine Woche schon währt der Krach. Merkel gegen Seehofer, CDU-Chefin gegen CSU-Chef, Kanzlerin gegen Minister: Bis in den späten Mittwochabend haben beide um Einigung gerungen. Vergeblich. Seehofer drängt auf eine Entscheidung, er will ein nationales Zeichen und auf eine europäische Lösung nicht länger warten. Die Kanzlerin will es noch einmal versuchen, beim EU- Gipfel in zwei Wochen. Vielleicht geht ja doch noch was. Der Showdown scheint unvermeidlich.

Und dann hat der Chef der CSU-Landesgruppe seinen großen Satz gefunden: „Wir stehen vor einer historischen Situation“, sagt Dobrindt. Und wer diesen Tag verfolgt hat, der kann ihm nur Recht geben. Drohungen werden ausgesprochen, Kompromissvorschläge gemacht und zurückgewiesen, Ultimaten werden gestellt und Beschwörungen ausgesprochen: Nie zuvor in der Amtszeit dieser Kanzlerin hat es ein so tiefes Zerwürfnis in der Union gegeben. Und nie zuvor war die Gefahr eines Bruchs der Regierung so mit Händen zu greifen. „Wie ein Tornado“ sei das über sie gekommen, beschreibt es ein CDU-Mann später. Und selbst den FDP-Abgeordneten, die am Mittag im Bundestag hin- und herlaufen, ist der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Wenn einer hier die Nerven verliert, könnte es Wumms machen: Koalitionsbruch, Merkel-Rücktritt, Deutschland wäre ein dreiviertel Jahr nach der Bundestagswahl wieder ohne Regierung.

Und weshalb das alles? Es gehe um „Zukunftsfragen des Landes“, wird der Generalsekretär der CSU, Markus Blume, später zur Motivlage seiner Partei sagen. Die Menschen müssten wissen, das die Sicherheit hergestellt wird. Man habe lange genug auf Europa gewartet, nun sei „Zeit zu handeln“. Selbstverständlich, sagt Blume gehe es der CSU um die Sicherheit der Deutschen und nicht um die im anstehende Landtagswahl in Bayern.

Doch beginnen wir am Anfang dieses denkwürdigen Tages. Nach dem ergebnislosen Gespräch von Merkel und Seehofer Mittwochnacht telefoniert die CDU-Vorsitzende sehr früh am Donnerstag ihr Präsidium zusammen. Ein Kompromissvorschlag wird formuliert: Deutschland soll Flüchtlinge abweisen können, wenn es mit Italien oder Griechenland darüber bilaterale Vereinbarungen gibt.

Von der CDU-Fraktion kommt kein Signal des Einknickens

Der Vorschlag ist etwas vergiftet, weil Vereinbarungen zu schließen, das dauert lange. Merkel will Zeit gewinnen, wie immer, wenn sie unter Druck steht. Aber auch ein Zugeständnis an Seehofer. Merkel weiß, dass die Bayern es ernst meinen, dass sie diese Krise womöglich nicht wird aussitzen können, wie so viele zuvor. In der Eurokrise hatte sie die Union im Griff, beim Atomausstieg, ja sogar in den Jahren nach 2015. Doch der Rückhalt schwindet am Donnerstag dramatisch. Die Präsiden der CDU stimmt ihrem Plan zu, nur Jens Spahn nicht. Das Signal: Die CDU-Führung steht hinter Merkel, was in der Bundestagsfraktion keineswegs ausgemachte Sache zu sein scheint.

Dann wird die seit neun Uhr laufende Sitzung des Bundestages unterbrochen, CDU und CSU treffen sich in getrennten Räumen. Auf die Schnelle kann sich niemand erinnern, dass es das in den letzten zwanzig Jahren schon mal gegeben hat. Der Bruch der Fraktionsgemeinschaft steht im Raum, er wird sogar ins Feld geführt, offen gefordert hat ihn aber keiner. Volker Kauder, der Vorsitzende der gemeinsamen Unions-Fraktion, eilt mit finsterem Gesicht herum. Dass es überhaupt soweit kommen konnte: Auch seine Autorität steht auf dem Spiel. Er wird alle Kameras meiden an diesem Tag, der Statthalter der Kanzlerin im Parlament.

Eins wird deutlich in den Stunden nach halb zwölf: Die CSU will die Entscheidung erzwingen. „Wir sind im Endspiel um die Glaubwürdigkeit“, sagt der Bayer Markus Söder und führt die „Menschen“ zur Begründung für diesen Aufstand der CSU an. Sie hätten „die Geduld verloren“. Bayern im Auftrag Deutschlands gegen Merkel: Man beteuert sich stundenlang in der CSU, dass die Wichtigkeit der Entscheidung die Wahl der Mittel rechtfertigt.

Seehofer zündet die nächste Rakete

Doch von nebenan kommt kein Signal des Einknickens. Als erster spricht drüben, bei der CDU, Wolfgang Schäuble, und er findet deutliche Worte: „Ich sage sehr klar, ich unterstütze das Vorgehen der Kanzlerin“. Worte des Bundestagspräsidenten und eines unionsweit geachteten Politikers, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Hier bei der CDU, wo sie bis 15 Uhr rund 50 Redner gezählt haben werden, die Schäuble und damit Merkel folgen und nur eine Handvoll, die auf Seehofers Seite stehen.

Den Christsozialen schwant derweil, dass die CDU sich nicht beugen will. Seehofer zündet die nächste Rakete, spricht vom Alleingang. Wenn die Regierungschefin nicht zustimmt, werde er als Minister entscheiden. Was rechtlich okay ist, ist politisch ein Affront. Gegen den Widerstand der Kanzlerin zu entscheiden, bedeutet die offene Machtfrage zu stellen. Merkel könnte gehen, ließe sie das zu. Oder sie schmeißt den CSU-Vorsitzenden aus der Regierung. Alle wissen nun wohl, was auf dem Spiel steht.

Erst am späteren Nachmittag wird sich herausstellen, dass der CSU-Vorsitzende die Koalition mit seiner Drohung womöglich gerettet haben wird – für diesen Tag und vorerst zumindest. Als die CSU- Granden kurz nach 15 Uhr aus ihrer Sondersitzung kommen, ist von Ultimaten an Merkel keine Rede mehr. Am Montag will man im CSU-Vorstand Unterstützung für Seehofers Alleingang beschließen. Wann der dann die Grenze schließt, ist seine Sache. Und Merkel? Sie hat versprochen, nun mal zu schauen, ob man mit Rom oder Athen ein Zurückweisungsabkommen hinbekommt. Von Kampfabstimmungen in der Unionsfraktion redet keiner mehr.

Verschoben der Showdown, vertagt die Machtprobe. Historiker werden sich später womöglich an Dobrindts Worte erinnern: eine historische Situation.

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