150 Jahre Deutsches Kaiserreich: Nie wieder Eisen und Blut
Bundespräsident Steinmeier lädt historischen Sachverstand zu einer Diskussion über die Reichsgründung 1871 ein. Und deren Verherrlichung heute.
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Als das Deutsche Kaiserreich im Januar 1971 hundert Jahre alt wurde, war, ausgerechnet, zum ersten Mal ein Sozialdemokrat westdeutsches Staatsoberhaupt. Nach Feiern war Bundespräsident Gustav Heinemann gar nicht zumute. Gedenktage kämen "ungerufen", sagte er seinerzeit.
Des 150. Geburtstags des Bismarck-Reichs muss wieder einer gedenken, der aus der Sozialdemokratie kommt. Frank-Walter Steinmeier zitiert den Vorgänger und macht deutlich, dass er das Unbehagen von damals teilt - und weit entfernt davon ist, auch nur die eine Linie in die Gegenwart wieder zu ziehen, die Heinemann im geteilten Deutschland nicht ziehen konnte. Deutschland ist - wie schon vor 150 Jahren - wieder vereint. Aber ein positiver Bezug auf das von Preußen herbeigezwungene und vom Eisernen Kanzler Otto von Bismarck auf "Eisen und Blut" gegründete monarchisch-illiberale Reich verbietet sich auch für die deutsche Republik von 1990: "Einen ungetrübten Blick auf das Kaiserreich", sagt Steinmeier zu seinen Gästen im Schloss Bellevue, "vorbei am Völkermord, an zwei Weltkriegen und einer von ihren Feinden zerstörten Republik, gibt es nicht. Es kann ihn nicht geben."
Clark: Nationen entstehen immer mit Gewalt
Die Gäste, das sind vier prominente Historikerinnen und Historiker mit besonderer Expertise für die Zeit des Wilhelminismus und seiner Folgen bis heute: Hélène Miard-Delacroix, Professorin für deutsche Zeitgeschichte an der Sorbonne in Paris und Kennerin der vor 150 Jahren konstruierten, aber lange wirkmächtigen deutsch-französischen "Erbfeindschaft", Christina Morina, Zeithistorikerin an der Universität Bielefeld und Fachfrau für Erinnerungskulturen, und der Marburger Zeithistoriker Eckart Conze. Digital ist aus Cambridge der australische Deutschlandkenner Christopher Clark zugeschaltet. Sein Buch "Die Schlafwandler" über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs wurde vor wenigen Jahren durchaus kritisch aufgenommen und als Versuch gelesen, den deutschen Anteil am Ersten Weltkrieg zurechtzustutzen - was ihm, wie Steinmeier bemerkt, in seiner britischen Wahlheimat Ärger von rechts, in Deutschland von links eintrug. Auch in Steinmeiers Runde gibt Clark mit sichtlichem Vergnügen den Relativierer des wilhelminischen Ungeheuers, dem der Wille zum "Sieg über äußere Feinde in die DNA eingeschrieben" sei und dem tatsächliche oder vermeintliche innere Feinde überlebenswichtig waren (Conze).
So widerspricht er dem Kollegen, der das Kaiserreich eine "Fehlgeburt" genannt hat. Die "gynäkologische Metapher" meine ja auch mit, dass es normale Geburten von Nationalstaaten gebe, entgegnete Sir Christopher unter Hinweis etwa auf die Staatwerdung Italiens: "Keine Nation wird normal geboren. Das sind immer sehr gewalttätige Prozesse."
Für ihn wie für die andern im Diskussionskreis im Schloss gab es dennoch keinen Zweifel am insgesamt vernichtenden Urteil, das Steinmeier in einer hochinformierten Begrüßungsrede vorgegeben hat: Ein Nationalstaat, aus drei Kriegen geboren, der entscheidende letzte gegen den engsten Nachbarn Frankreich, ein Militärstaat, der bis zu seinem unrühmlichen Ende 1918 die Armee als Staat im Staate erhielt und fütterte, undemokratisch, autoritär und ständig damit beschäftigt, innere wie äußere Feinde auszumachen und teils brutal zu bekämpfen.
Ein Staat gegründet auf Hass gegen den Nachbarn
Der erste war das besiegte Frankreich, zu dessen endgültiger Demütigung Gründervater Bismarck am 18. Januar 1871 sein Preußen-Deutschland ausgerechnet im Spiegelsaal von Schloss Versailles proklamieren ließ, dem Werk des Sonnenkönigs Ludwig XIV. "Der Zusammenfall von Reichsgründung und Demütigung des Nachbarn, mit dem man zusammenleben will, war eine Ursünde", sagt Helene Miard-Delacroix. Darin sei der Keim des Revanchismus gelegt, ein Krieg auf Dauer. "Und das wurde von beiden Gesellschaften getragen." Demokratie war trotz allgemeinen männlichen Wahlrechts im wilhelminischen Deutschland nie wirklich zugelassen - oder und nur in homöopathischen Dosen, wenn es der Obrigkeit "opportun oder harmlos" erschien (Morina). Kurz: Ein Deutschland mit demokratischem und liberalem Anspruch kann sich auf so eine Vorgängerin nicht positiv beziehen.
Die Vier im Schloss und der Herr auf dem Bildschirm würdigten dennoch die Errungenschaften der fast fünfzig Jahre zwischen Versailles und Compiègne - mit dem Waffenstillstand in einem Eisenbahnwaggon im Wald in Nordfrankreich endete 1918, was knapp 48 Jahre zuvor in Versailles begonnen hatte. Und es erfüllte sich, woran Christina Morina erinnerte, die Prophezeiung der Sozialdemokraten: Was mit dem Säbel erkämpft wurde, werde durch Säbel untergehen.
Auf der Habenseite jener Jahre stehen eine stürmische Entwicklung von Wirtschaft, Industrie und Forschung, das damals vorbildlich progressive allgemeine - männliche - Wahlrecht, Anfänge von Sozialgesetzgebung und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Um 1890 hatte das Reich Großbritannien als weltweit größter Industriestaat überholt, zeitweise ging ein Drittel aller Nobelpreise an Deutschland. Eine zwar von echter politischer Macht ausgeschlossene, aber politisch hochaktive Zivilgesellschaft trotzte Bismarcks Verfolgungen nicht nur, sondern verkehrte sie teils in ihr Gegenteil. Die Frauenbewegung formiert sich, die Bismarck verhassten Sozialdemokraten und ihre Fraktion im Reichstag "wachsen und wachsen und wachsen", der Kulturkampf, der schließlich rund die Hälfte des katholischen deutschen Episkopats ins Gefängnis brachte, schafft einen "festen katholischen Block", die Zentrumspartei, und "macht aus Katholiken Politiker" (Clark). Er wolle "kein Rosenöl aufs Kaiserreich schütten", wenn er darauf hinweise, "mit welchem Erfindungsreichtum, welcher Energie" sich der Unterdrückung zum Trotz die Sozialdemokraten wie auch die von Bismarck ebenfalls gehasste polnische Minderheit deutschlandweit organisierten.
Das aber sei "nicht die Leistungsbilanz des Kaiserreichs", sagt Eckart Conze und geschah "nicht wegen, sondern trotz" des wilhelminischen Systems, so Christina Morina. "Die wenigen, begrenzten Räume wurden genutzt von Bürgern, meist Männern, mit großer Verantwortungsbereitschaft. Das war aber nicht angelegt im System", sagt sie. Dieses System habe dem sozialen Gefüge vielmehr insgesamt geschadet, weil es ihm "keine echte Souveränität" ermöglicht habe. "Auch nach innen ist diese Gesellschaft unsicher, erregbar, nervös." Deutschlands stürmischer Aufschwung produzierte auch viele Modernisierungsverliererinnen und Anhängerschaft für die These, das große starke Land sei außenpolitisch unpassend schwach. Man brauche ein Kolonialreich, einen "Platz an der (afrikanischen) Sonne", wie Wilhelm II. es formulierte.
"Intensivere Diskussion über das Kaiserreich täte uns gut"
Das habe die Öffentlichkeit immer kriegslüsterner gemacht, so Morina: "Die Diskussion wurde immer ausgefeilter rassistisch, es gab immer mehr Antisemitimus." Steinmeier hatte zuvor an die nur formale Gleichstellung der jüdischen Deutschen erinnert. Man hätte ergänzen können: Der Rassismus mündete schon im Kaiserreich in einen Völkermord, der dem Holocaust vorausging - den an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Steinmeier hatte in seinen Begrüßungswort nur von einem Völkermord gesprochen.
Bleibt die Frage aller Fragen an die Geschichte: Was lässt sich aus ihr lernen? Steinmeier hat diesen Punkt sehr stark gemacht, seinen ursprünglichen Redetext sogar auf ihn zugespitzt. Diese Epoche "heute noch einmal zu befragen", lohne sich gerade jetzt. Modernisierung und schneller Wandel hätten schon damals Verunsicherung bewirkt, "die Nationalismus und Populismus befeuerten". Und was die Weltpolitik angeht, fragt sich der frühere Außenmniister Steinmeier, ob ihr nicht auch "ein Rückfall in nationalen Egoismus und brutale Machtpolitik drohten, eine von der Art, "wie sie einst in den Ersten Weltkrieg führte?" Und sei nicht der Aufstieg des Kaiserreichs zur globalen Militär- und Wirtschsaftsmacht dem von China heute ähnlich?
In der Diskussion fragt Moderator Steinmeier nicht offen danach; die Antworten fallen implizit, sie kommen von den beiden Deutschen in der Runde. Morina hat sich als Forscherin auch mit den Wirkung nationalistisch-gewalttätiger Versatzstücke aus der neueren deutschen Geschichte aufs deutsche Heute beschäftigt. Eckart Conze ruft, ohne sie zu nennen, die laufende und immer lautere Debatte um Rassismus und Vielfalt auf, als er an die wilhelminische Phantasie eines homogenen Staats erinnert. Juden und Katholiken störten dort ebenso wie Polen und Sozialdemokraten. Und wurden gleichzeitig dringend gebraucht, um den im Grunde zerbrechlichen "von oben gegründeten, illiberalen Machtstaat" zu stabilisieren. Im Kampf gegen die gemeinsamen Feindbilder ließ sich eins werden.
Gastgeber Steinmeier wünscht sich, offensiver als Vorgänger Heinemann, für dieses Jubiläumsjahr ohne Jubel, "dass wir eine etwas intensivere Diskusion über diese Jahre zwischen 1871und 1918 hätten". Es "täte uns gut", sagt er zum Schluss, diese Geschichte als Teil unserer Geschichte zu sehen, nicht, um sie uns anzueignen - wie die, die sich in Reichskriegsflaggen hüllten -, sondern für die Auseinandersetzung mit "Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, die im Kaiserreich nicht gegeben waren." Gerade die Anfechtungen liberaler Demokratie heute mache es nötig, darüber zu sprechen. "Ein allgemeines Wahlrecht allein macht noch keine Demokratie" hatte der Bundespräsident zu Beginn der Veranstaltung gesagt. Im Gegenteil: Wenn es keine wirkliche Teilhabe von Parlament und Gesellschaft gebe, "kann die bloße turnusmäßige Ausübung des Wahlrechts ein autoritäres Regime auch stützen".
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