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Fast alle waren in die Ereignisse der Gegenwart verstrickt. Durch Wegschauen, Schönrednerei, Kumpanei.
© Kay Nietfeld/dpa

Deutsche Russland-Politik: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Viele in Deutschland waren realitätsblind und nahmen Putins imperial-aggressive Ausrichtung lange Zeit nicht wahr. Das muss aufgearbeitet werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Sind die Deutschen die Komplizen Russlands, Wladimir Putins nützliche Idioten? Haben sich all die Parolen, Russland müsse eingebunden und dürfe auf keinen Fall provoziert werden, als falsch erwiesen? Sicher ist: Die deutsche Politik seit der Wiedervereinigung ist in die Ereignisse der Gegenwart unheilvoll verstrickt. Sicher ist aber auch: Für den Krieg in der Ukraine und dessen grausame Folgen sind einzig und allein Putin und das russische Militär verantwortlich.

Dennoch ist die Debatte in Deutschland über Fehler und Versäumnisse richtig. Sie zeugt von Reife, im besten Fall von Lernbereitschaft. Der Bundespräsident hat jetzt eine bittere Bilanz gezogen, aber die Aufarbeitung ist gerade erst am Anfang.

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Befriedigt sie auch einen Hang zu quälerischer Introspektion? Mag sein. Hilft sie den Ukrainern in ihrem Kampf ums Überleben, um Selbstbehauptung und Souveränität? Eher nicht. Wird Putins Angriffs- und Eroberungskrieg gar von Parteivertretern instrumentalisiert, um den politischen Gegner zu diffamieren? Ja, das kommt vor.

Kaum ein Haupt bleibt ohne Asche

Solche Einwände sollten die Notwendigkeit von Läuterungsprozessen allerdings nicht in Frage stellen. Wie konnte es geschehen, dass Putins imperial-aggressive Ausrichtung in Deutschland nivelliert, abgestritten, zumindest kaum wahrgenommen wurde? Warum wurde die Energieabhängigkeit von Russland stetig ausgebaut statt reduziert? Solche Fragen, die nicht nur viele Partner im Ausland stellen, harren einer Antwort. Dabei sollte es in erster Linie um Wahrhaftigkeit, nicht um Schuld gehen, zumal kaum ein Haupt ohne Asche bleibt.

Die Fakten waren bekannt. Russland hat 2008 Krieg gegen Georgien geführt, 2014 die Krim annektiert, seitdem unterstützt es Separatisten in der Ostukraine. Dissidenten werden drangsaliert und umgebracht, Propagandafeldzüge und Cyberangriffe gegen westliche Institutionen geführt, Diktatoren wie Syriens Baschar al-Assad ebenso unterstützt wie rechtspopulistische Bewegungen in Europa.

Währenddessen sprudeln die Einnahmen aus den Energieexporten, die das Fundament der russischen Wirtschaft bilden. Wer Augen hat zu sehen, konnte das alles sehen.

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Dass Linke und AfD zu Putin halten, überrascht nicht. Sahra Wagenknecht meinte nach der Annexion der Krim, die „Putschregierung“ in Kiew, der Neofaschisten und Antisemiten angehören würden, sei mit dem Segen von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier ins Amt gekommen. Alexander Gauland sagte, die Loslösung Kiews von Russland sei vergleichbar mit der Abtrennung Aachens oder Kölns von Deutschland.

Kein Wandel durch Anbiederung

Was aber ritt Außenminister Steinmeier, zwei Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine eine Lockerung der EU-Sanktionen zu fordern und ein Nato-Manöver in Osteuropa als „Säbelrasseln“ und „Kriegsgeheul“ zu kritisieren? Warum intensivierte Merkel die Wirtschaftsbeziehungen, ohne zu merken, dass die Hoffnung „Wandel durch Handel“ durch das Prinzip „kein Wandel durch Anbiederung“ ersetzt worden war?

Das Verhalten von FDP und Grünen wirft ebenfalls heikle Fragen auf. Jürgen Trittin, ein Grüner, lobte Hans-Dietrich Genscher, das Urgestein der Liberalen, im Jahr 2016 dafür, unverdrossen für eine enge Anbindung Russlands an Europa geworben zu haben. FDP-Chef Christian Lindner nannte Genscher einen „Entgifter“ des Ost-West-Verhältnisses.

Die Grünen wiederum, die maßgebliche Kraft hinter Atom- und Kohleausstieg, haben nur ungenügend die Folgen problematisiert, die diese Maßnahmen für die Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland haben.

Aus seiner eigenen Vergangenheit sollte Deutschland drei Lehren gezogen haben: Nie wieder Angriffskriege. Nie wieder Massenmorde. Nie wieder Tyrannei. Spätestens seit 2014 hätte das Verhältnis zu Russland durch diese Lehren geprägt sein müssen. War es aber nicht. Der Wille zum Wegschauen war stärker als die Verpflichtung zum Hinschauen. Illusionen über Putin kann sich nun keiner mehr machen. Warum der Realitätsschock so lange gedauert hat, muss dringend geklärt werden.

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