Frankreich nach dem WM-Sieg: Nicht die Stunde für Pessimismus
Frankreich feiert seine WM-Helden und eine gelungene Integration der Kicker. Doch die politischen Fehler von 1998, als Frankreich zuletzt den Titel holte, will man diesmal nicht wiederholen.
Frankreich ist zum zweiten Mal nach 1998 Fußball-Weltmeister geworden. Der zweite Stern, mit dem sich Frankreich seit Sonntagabend schmücken kann, hebt das Nachbarland nicht nur sportlich in eine Liga mit Argentinien und Uruguay, die ebenfalls schon zweimal Weltmeister wurden. Nach dem Titelgewinn erlebt Frankreich einen Moment des Stolzes – und denkt über seine Einwanderungsgesellschaft nach.
Was bedeutet der WM-Sieg für Staatschef Macron?
Emmanuel Macron nutzte am Sonntag auf der Ehrentribüne im Moskauer Luschniki-Stadion die Chance, sich in Szene zu setzen. Als die „Equipe Tricolore“ im Finale durch ein Eigentor des Kroaten Mario Mandzukic in Führung ging, sprang Frankreichs Staatschef von seinem Sitz auf, ballte die Fäuste und schrie seine Begeisterung hinaus. Nach der Siegerehrung feierte er dann ausgelassen mit den Spielern in der Umkleidekabine.
Dabei hatte es noch unmittelbar vor dem Finale aus dem Elysée-Palast geheißen, dass sich Macron in Moskau keineswegs in den Vordergrund spielen wolle. Aber die Versuchung, im Glanz der Nationalelf zu baden, war für den 40-Jährigen offenbar doch zu groß. Am Montag wurden die Siegesfeiern in Paris fortgesetzt: Erst sollte das Team am Abend über die Champs-Elysées fahren, dann wollte der Staatschef die siegreiche Mannschaft im Elysée-Palast empfangen.
Diese Geste wird von Macron allerdings auch erwartet, denn der Erfolg der „Bleus“ hat das ganze Land mitgerissen. Selbst die Zeitung „L’Humanité“, die lange Zeit enge Beziehungen zur kommunistischen Partei Frankreichs pflegte, titelte am Montag nach dem WM-Sieg poetisch mit der Schlagzeile „Der Kopf in den Sternen“.
Allerdings will man bei „L’Humanité“ keineswegs so weit gehen wie einige Fans, die nach dem Titelgewinn bereits eine Parallele zwischen Macrons Reformpolitik und dem nicht immer schönen, aber höchst effizienten Ergebnisfußball des Trainers Didier Deschamps zogen. Wie auch immer: Macron weiß natürlich, dass der WM-Gewinn ihm in den Umfragen nur nutzen kann. Er dürfte das Beispiel von Jacques Chirac vor Augen haben: Als Frankreich 1998 die WM im eigenen Land ausrichtete, zeigte sich Chirac bei jeder Gelegenheit mit den Spielern. Als er dann nach dem Sieg über Brasilien in Paris den WM-Pokal überreichte, küsste er überschwänglich die Glatze des Torwarts Fabien Barthez. Anschließend stiegen stiegen Chiracs Umfragewerte um 15 Prozentpunkte.
Einen Umfrage-Schub kann auch Macron derzeit ganz gut gebrauchen, denn zuletzt ist er in der Beliebtheit der Franzosen abgesackt. Das hat vielfältige Gründe: Die Linkswähler sind enttäuscht von seiner Flüchtlingspolitik, bei den Senioren gibt es eine große Unsicherheit angesichts der geplanten Rentenreform. Und in allen Wählerschichten gibt es Klagen über die mangelnde Kaufkraft.
Deshalb dürfte Macron in den kommenden Tagen auch wieder schnell die politische Agenda in den Vordergrund rücken. An diesem Dienstag steht für ihn ein Treffen mit den Spitzenvertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände auf der Tagesordnung, mit dessen Hilfe die Zahl der kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse in der Wirtschaft zurückgefahren werden soll.
Was bedeutet der WM-Titel für die französische Gesellschaft?
Der Jubel in Frankreich ist vor allem deshalb groß, weil es diesmal – anders als bei der Europameisterschaft im eigenen Land vor zwei Jahren – ein Happy End gab. Deschamps’ Team glaubte damals, den Finalsieg schon sicher in der Tasche zu haben. Doch dann schnappten die Portugiesen den „Bleus“ die EM-Trophäe vor der Nase weg.
Zudem wird der WM-Titel in einem Land gefeiert, dessen Menschen eine jahrelange Terrorserie erdulden mussten: Die islamistischen Attentate auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und den Musikclub „Bataclan“ im Jahr 2015 sind bis heute nicht vergessen. Und vier Tage, nachdem Frankreich im EM-Finale 2016 gegen Portugal unterlag, tötete ein dschihadistischer Amokfahrer in Nizza mindestens 86 Menschen. Ganz ungetrübt verlief die WM-Feier allerdings auch diesmal nicht. Auf den Champs-Elysées verwüsteten Plünderer am späten Sonntagabend ein Edelgeschäft. Die Polizei ging anschließend mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Randalierer vor.
Gilt die französische Mannschaft als gesellschaftliches Modell?
Darüber gehen die Meinungen in Frankreich auseinander. Die Sportzeitung „L’Equipe“ kommentierte den Ausgang des Finales zwar stolz mit den Worten, dass die siegreiche „Equipe Tricolore“ die „französische Tradition des Sieges“ von Deschamps eingeimpft bekommen habe. Gleichzeitig wurde aber auch betont, dass der Erfolg glücklicherweise kaum politisiert worden sei. „Man darf von unseren Bleus nicht erwarten, dass sie das nationale Schicksal auf ihre Schultern nehmen“, schrieb das Blatt.
Andererseits wird die bunte Truppe um Antoine Griezmann und Kylian Mbappé im Nachbarland bereits als „Generation Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ bezeichnet. Das siegreiche Team ist nicht zuletzt eine Mannschaft erfolgreicher Einwandererkinder. Viele Spieler kommen aus den Pariser Vorstädten – etwa der in Colombes geborene Steven Nzonzi oder Paul Pogba, der in Lagny-sur-Marne als Sohn guineischer Eltern zur Welt kam. Als bei der Pariser Siegesfeier am Sonntagabend die Vornamen und Konterfeis der Weltmeister auf den Triumphbogen projiziert wurden, war der Beifall am stärksten, als der keltische Vorname „Kylian“ an die Reihe kam: Kylian Mbappé, dessen Vater aus Kamerun stammt, hatte zuvor die Partie in Moskau mit seinem Treffer zum 4:1 weit gehend entschieden. Auch Kylian Mbappé wuchs in den Banlieues von Paris auf.
Auch wenn der Triumphbogen am Sonntag im Slogan „Der Sieg wurde in Frankreich errungen“ erstrahlte und damit die gelungene Integration der Einwandererkinder betont wurde, so ist doch nicht längst alles Gold, was glänzt im französischen Fußball. Dass es dort zumindest in der Vergangenheit ein Rassismusproblem gab, wurde 2011 offenbar. Damals beklagte der Nationaltrainer Laurent Blanc bei einer Arbeitssitzung, dass Spieler mit dunkler Hautfarbe („les blacks“) das Fußballgeschehen im Land dominierten. In diesem Zusammenhang wurde im französischen Fußballverband auch über eine Quotenregelung zu Gunsten französischstämmiger Spieler diskutiert.
Der heutige Nationaltrainer Deschamps, der 2012 Blancs Nachfolge antrat, wollte von einer solchen Ausgrenzung nichts wissen. Er formte ein Team, in dem auch die Stürmer in der Defensive aushelfen und – was in Frankreich besonders mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wird – das ohne politische Unfälle durch die WM gekommen ist. Einen Fall wie den des deutschen Mittelfeldspielers Mesut Özil, der sich die Frage gefallen lassen musste, ob seine Loyalität eher dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan oder dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gelte, gab es in Frankreich nicht.
Wie weit trägt die Begeisterung für die Nationalmannschaft?
Es liegt in der Natur der Sache, dass die nationale Begeisterung für ein Sportereignis wie eine Fußball-WM nur eine vorübergehende Erscheinung ist. In leidvoller Erinnerung ist den Franzosen das Hin und Her um die Weltmeistermannschaft von 1998, die mit den Attributen „black, blanc, beur“ als multikulturelles Vorzeigemodell glorifiziert wurde – ein Team, in dem die Kinder von schwarz- und nordafrikanischen Einwanderern gemeinsam mit Weißen wie Didier Deschamps standen. Wie dünn der Firnis war, zeigte sich allerdings 2001, als bei einem Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Algerien die algerischstämmigen Zuschauer die Marseillaise auspfiffen.
Aber für Pessismismus ist dies nicht die Stunde in Frankreich. Auch die Tageszeitung „Libération“, die nationalchauvinistischen Tönen eher kritisch gegenübersteht, titelte am Montag „Encore!“ („Noch einmal!“). Der Doppelsinn ist klar: Nach dem Titelgewinn von 1998 ist das WM-Kunststück jetzt ein zweites Mal gelungen. Und andererseits ist angesichts des jugendlichen Alters der „Bleus“ auch bei der nächsten WM 2022 eine weitere Wiederholung möglich.
Albrecht Meier