Europa: Nicht die große Chance der SPD verschlafen
Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament fordert, die SPD müsse einen neuen Führungsanspruch begründen. Ein Gastbeitrag
Wer, wenn nicht die internationale Sozialdemokratie, sollte in Europa für einen neuen Aufbruch sorgen? Das ist der erste Gedanke, der einem kommt, wenn man Europas politische Trends von Brüssel aus betrachtet. Ein neuer Aufbruch, über Kirchturmsthemen hinaus: Das ist zugleich die Herausforderung, die über die Zukunft der deutschen SPD entscheidet.
Aus Brüsseler Sicht ist es oft zum Haare raufen, ansehen zu müssen, wie selbstfixiert die nationalen Debatten sind, gerade in Deutschland. In den vergangenen Wochen war das auch in der SPD wieder spürbar. Medienspekulationen gegen die aktuelle Parteiführung werden offenkundig immer wieder von innen befeuert, weit über einen ehemaligen Parteichef und den ehemaligen Kanzler hinaus. Der Eindruck wird erweckt, als handele es sich um rein deutsche, um selbstgemachte, quasi schuldhaft verursachte oder gar personell zurechenbare Probleme der Sozialdemokratie. Wie kurzsichtig, wie banal gedacht!
Neue Gerechtigkeitsdefizite
Dabei kann man gleiches parallel bei vielen sozialdemokratischen Parteien in Europa beobachten. Vor allem wirken sich da soziale Veränderungen und neue Gerechtigkeitsdefizite aus. Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die Zuwanderungsproblematik, die allgemeine Individualisierung: Hier geht es um globale Prozesse. Umso wichtiger wird europäisches, vernetztes Denken und eine gemeinsame Strategie über die nationale Ebene hinaus. Darauf warten andere sozialdemokratische Parteien in Europa geradezu: dass die SPD ihre Selbstbespiegelung beendet, ihren Politikansatz wieder erweitert und internationaler ausrichtet. Dass sie aufhört, sich selbst schlecht zu reden.
Die Wahrheit ist: In der Bundesregierung und auch in vielen deutschen Landesregierungen sind die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Aktivposten. Der wahre Skandal im deutschen Parteiensystem ist, dass die Konservativen sich von den Rechtspopulisten treiben lassen oder ganz abtauchen, wenn es um Gestaltung geht. Dadurch wurde die öffentliche Debatte in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts verschoben. Nur eine selbstbewusste SPD könnte diesen Trend aufhalten.
Zu oft hat sie aber den Eindruck entstehen lassen, kleinere Einzelthemen seien ihr wichtiger als das Prägen der Grundrichtung der deutschen Politik. Um diese Grundrichtung geht es bei Wahlen, auch im Mai bei der Europawahl. Es geht um die große Alternative zwischen rückwärtsgewandter nationaler Politik einerseits und sozial engagierter Weltoffenheit andererseits.
Interne Eifersüchteleien beenden
Die SPD müsste viel deutlicher herausstellen, wie gespalten und handlungsunfähig die Konservativen geworden sind. Dazu müssen die internen Eifersüchteleien und Extratouren - sei es durch Flügel oder durch einzelne Landesverbände - beendet werden. Die Parteiführung versucht das, aber nicht alle scheinen mitzuziehen. Das lenkt von der Schwäche der Konservativen ab.
Diese Schwäche wird dauerhaft sein. Anhand der EVP ist auf europäischer Ebene inzwischen klar zu sehen, wie konservative Politik zum Machtspiel verkümmert und die Inhalte liegen bleiben. CDU und CSU haben in Deutschland in der Flüchtlingsdebatte nichts anderes vorgeführt. Einerseits Viktor Orbán zu hofieren und andererseits ein weltoffenes Land regieren wollen: Das geht nicht zusammen und daraus wird insbesondere keine Perspektive für die Zukunft. Es ist die Aufgabe der SPD, das immer wieder zum Thema zu machen. Sie verschläft ihre Chance, wenn sie jetzt nicht die nächste Phase deutscher und europäischer Politik vordenkt und vorausschauend handelt
Seriöses Zukunftskonzept
Die Ära Merkel ist faktisch zu Ende. Auch wenn die Kanzlerin noch im Amt ist, gehen von ihr keine Impulse mehr aus – und die erwartet auch niemand mehr. Die Europawahl 2019 bietet der SPD die Chance, mit einem frischen und zugleich seriösen Zukunftskonzept um neues Vertrauen zu werben, dabei den europäischen Horizont in den Mittelpunkt zu rücken und einen neuen Führungsanspruch zu begründen – gegen den nächsten Kanzlerkandidaten oder die Kanzlerkandidatin der CDU.
Die programmatischen Grundlagen sind vorhanden. Arbeit UND Umwelt, Wirtschaft UND Soziales: Früher als viele andere europäische sozialdemokratische Parteien hatte die SPD erkannt, dass gute Politik alte Gegensätze überwinden muss. Radikaler Pragmatismus bedeutet: Prinzipien und Ziele klar machen – und dann klare Schritte definieren. Innovativ, mit einem frischen Ansatz, aber inhaltlich verlässlich und klar. Ein Europa, das etwas bewegt: Die SPD sollte dies zu ihrem Projekt machen, der Bedarf dafür ist da.
Udo Bullmann ist Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament und Co-Spitzenkandidat für die Europawahl.
Von Udo Bullmann
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