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Die Mine der Kanzlerin verrät's: Was an Expertise bestellt wurde, gefällt nicht immer - hier vor der Vorstellung des Jahresgutachtens der Wirtschaftsweisen mit Teilen des Kabinetts.
© imago/Eibner
Update

Sachverständigenrat Integration und Migration: Neun neue Weise für die Politik

Die Bundesregierung schafft sich ein eigenes Beratungsgremium für Fragen der Einwanderungsgesellschaft - deren Themen werden immer drängender.

Die Bundesregierung will sich dauerhaft fachliche Beratung zur Einwanderungsgesellschaft sichern und finanziert deshalb künftig den Sachverständigenrat SVR. Das Gremium, das bisher den langen Namen “Unabhängiger Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration” trug, vereint neun - wechselnde - Einwanderungsspezialistinnen und -spezialisten verschiedenster Fächer von Jura über Wirtschaftswissenschaft bis Psychologie . Es wurde vor zwölf Jahren auf Initiative der Volkswagen und der Mercator-Stiftung gegründet und seither von insgesamt acht Stiftungen finanziert. Dass die Finanzierung jetzt vollständig staatlich wird, zeigt den Rang, den die Politik dem Thema einräumt.

Das freie Urteilen und Arbeiten des SVR soll dadurch nicht beeinträchtigt werden, versichern alle Beteiligten. Im Einrichtungserlass des Bundeskabinetts vom 2. Dezember heißt es, dass die Sachverständigen als „unabhängiges interdiszplinäres Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung“ Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die Zivilgesellschaft über die Entwicklung der Einwanderungsgesellschaft informieren, „wissenschaftlich fundiert“ praktische Lösungen für deren Probleme entwickeln und die öffentliche Debatte mit Sachargumenten versorgen sollen.

Wissenschaftliche Beratung gab es schon unter Adenauer 

Beratung leistet sich die Politik aus vielen Kanälen und auf vielen Feldern – freilich nicht immer als feste Einrichtung und dauerfinanziert. Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags kam vor zehn Jahren zum Ergebnis, dass allein die Bundesregierung, je nach Zählung, 67 Beratungsgremien beziehungsweise 123 oder sogar 300 Beratungskreise unterhalte. Auch Gremien wie der „Wissenschaftliche Beirat für Düngungsfragen“ sind darunter. Der Düngerbeirat versorgt schon seit 1952 das Landwirtschaftsministerium mit Expertise, anfangs um die Nachkriegsversorgung sicherzustellen – inzwischen debattiert die Republik über die unangenehmeren Folgen von viel Gülle und Nitrat.

„Die Zahl der Beratungsgremien, Kommissionen, Think Tanks und kommerziellen Politikberatungsinstitutionen steigt stetig an“ heißt es im Fact Sheet des Wissenschaftlichen Diensts. Wobei nur wenige von ihnen öffentlich stark wahrgenommen und einflussreich werden. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen etwa wurde 1971 eingerichtet, noch vor dem Ölschock und weit vor der Einrichtung der ersten westdeutschen Umweltministeriums in Folge der Atomkatastrophe von Tschernobyl. Am bekanntesten dürften die „Wirtschaftsweisen“ sein, die offiziell „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ heißen und seit 1963 amtieren. Die öffentliche Übergabe ihrer Gutachten sind ein bundesrepublikanisches Ritual. Auch der Ethikrat hat in den letzten Jahren neuen Rang bekommen. Er beriet in Fragen des Lebensendes und neuerdings zur Pandemie-Politik.

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Vom SVR bekamen Politik und Öffentlichkeit in den vergangenen zwölf Jahren einen regelmäßigen Jahresbericht, in dem die Lage der - immer vielfältigeren - Nation unter die Lupe genommen wurde. Im "Integrationsbarometer" messen die Sachverständigen alle zwei Jahre, wie die Bevölkerung in Deutschland selbst das Klima und den sozialen Zusammenhalt sieht. Kürzlich kam es erneut heraus - mit dem Befund, dass unter Covid-19 das Vertrauen zur Regierung sogar noch gewachsen ist, das der alteingesessenen Deutschen derart, dass es inzwischen nicht mehr weit vom traditionell sehr hohen Vertrauen der migrantischen Bevölkerung entfernt ist.

Hinzu kommen Forschungsberichte wie kürzlich einer über die Landschaft der deutschen Migrantenorganisationen - die Staatssekretär Markus Kerber vom Bundesinnenministerium bei der Vorstellung als wichtige Akteurinnen für den sozialen Zusammenhalt lobte. Weil der Staat auf sie angewiesen sei, habe man die SVR-Forschungsarbeit unterstützt.

Auch wer bezahlt wird, soll kritisieren

Kerber betonte jetzt, dass die völlige Unabhängigkeit des SVR auch künftig sichergestellt sei: Die Berufungskommission für den regelmäßig wechselnden Kreis der Expertinnen und Experten bestimme nicht sein Haus, sondern daran seien alle Ressorts der Regierung beteiligt. Für den SVR entschieden habe sich zudem der Bundestag, "also der Souverän". Dass man kein anderes Institut der inzwischen reichen Migrationsforschung ausgewählt habe, liege unter anderem daran, dass der SVR keiner Denkschule zuzuordnen sei,. Auch das System der Besetzung mit neun wechselnden wissenschaftlichen Persönlichkeiten habe überzeugt.

Petra Bendel, die aktuelle SVR-Vorsitzende, sagte, Beratungsarbeit für die Regierung und jene kritische Politikbegleitung, die einst der Motor und Gründungsvorsitzende des SVR, Klaus J. Bade, gewollt habe, schlössen einander keineswegs aus - das habe der SVR schon mit kritischen Gutachten bewiesen, die ebenfalls vom Ministerium finanziell unterstützt wurden. Kerber ergänzte, auch der bekannteste Think Tank der Regierung, die Wirtschaftsweisen, habe "noch in jedem ihrer Berichte der Bundesregierung ihre Wirtschaftspolitik um die Ohren gehauen." Sollte der SVR anders handeln, "dann wüsste ich, dass wir etwas falsch gemacht haben".  

Bade selbst, der als Vater der deutschen Migrationsforschung gelten kann und  viele Jahre lang auch immer wieder die Politik beraten hat, kommentierte auf Anfrage des Tagesspiegels: „Zunächst  hat mich die Nachricht von der schrittweisen 'Verstaatlichung'  des SVR sehr irritiert. Ich war drauf und dran, einen Nachruf  zu schreiben", sagte der Historiker, der sich schon vor Jahren ganz aus der öffentlichen Diskussion zurückgezogen hat. "Angeblich ist aber die Unabhängigkeit des SVR gegenüber dem Staat heute so gesichert wie seinerzeit gegenüber den Stiftungen. Das klingt beruhigend, muss sich aber erst noch bewähren.“

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