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reInput aus der Einwanderungsgesellschaft: Die damalige Familienministerin Manuela Schwesig (rechts) im Gespräch mit der Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime, Nurhan Soykan (Mitte) und Erika Theißen vom Aktionsbündnis muslimischer Frauen. Auch die beiden muslimischen Verbände sind vielfach in Sozialarbeit engagiert.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Wie sich Migrantinnen organisieren: Die Demokratie braucht Verbände - auch migrantische

Sehr weiblich, divers und immer politischer - der Sachverständigenrat SVR hat die Szene der etwa 14.000 migrantischen Vereine in Deutschland untersucht.

Migrantenorganisationen in Deutschland sind inzwischen mehrheitlich auf ihr Hier und Heute und kaum mehr auf die Herkunftsländer bezogen. Sie sind vor allem lokal engagiert, weiblich - und spielen eine zunehmend wichtige Rolle in Bildungs- und Sozialarbeit und immer mehr auch für die Bundespolitik. Das sind die wichtigsten Befunde einer neuen Studie zur Organisationslandschaft von Menschen mit Migrationsgeschichte, die der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) am Montag vorgestellt hat.

Auf zwischen 12.400 und 14.300 aktive und als Verein eingetragene migrantisch geprägte Organisationen (MO) kommt das Team des Forschungsbereichs beim SVR in seiner Studie mit dem Titel "Vielfältig engagiert – breit vernetzt – partiell eingebunden? Migrantenorganisationen als gestaltende Kraft in der Gesellschaft". Dabei entwickle sich die Landschaft dynamisch, heißt es in der SVR-Studie: "Die Hälfte der heutigen Organisationen entstand nach 2004, ein Viertel erst nach 2012." Dafür dürfte unter anderem eine höhere Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft eine Rolle gespielt haben.

Der Gründungsschub nach 2012 ergibt sich der Studie nach aus dem Beginn der hohen Fluchtmigration in den Folgejahren. Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesministerium und dort zuständig für Migration und Politik des gesellschaftlichen Zusammenhalts, nannte das Jahr 2005 als entscheidend für einen anderen Blick auf MO. Es habe "eine Wende" in den Ministerien und der Verwaltung bedeutet. Damals seien die Vereine und Organisationen mit migrantischem Hintergrund "vermehrt als Brückenbauer für Integration und als Partnerinnen des Staats" erkannt worden.

Fit machen für die Verbändedemokratie

Der Staat brauche sie und habe deshalb auch die vorliegende Bestandsaufnahme durch den SVR gefördert, sagte Kerber: "Wir sind eine Verbändedemokratie". Verbände seien Teil etwa von Gesetzgebungsverfahren, "sie müssen aber auch die Chance und die Fähigkeiten haben, sich einzubringen". Diesen Ansatz verfolge das Ministerium seit 15 Jahren: "die Migrantenorganisationen so zu befähigen, dass sie in diesem normalen Mechanismus einer Verbändedemokratie mitzuhalten." Sie seien für den Staat "enorm wichtig", weshalb man auch angefangen habe, sie nicht mehr nur über Einzelprojekte, sondern stetig, über die so genannte Strukturförderung, zu unterstützen.

Der Alltag der MO ist allerdings nicht von politischer Arbeit geprägt, sondern von sehr viel Alltagsarbeit im Kleinen, räumlich wie personell. "Der überwiegende Teil der MO ist vor allem in der eigenen Stadt bzw. Kommune aktiv (über 60 %) und mit bis zu 100 Mitgliedern eher klein (58,1 %)", heißt es in der SVR-Studie. Frauen stellen nicht nur die Mehrheit der Mitglieder - im Schnitt 53 Prozent - , sondern führen sie auch viel öfter als im Durchschnitt deutscher Vereine: Statistisch sind 2,6 von 5,8 Vorstandsmitgliedern in einer Migrantenorganisation weiblich, die mit eigener Geschäftsführung haben in 42,2 Prozent aller Fälle eine Frau in diesem Amt. Im deutschen Vereinsschnitt insgesamt liegen dagegen die Männer vorn: Von ihnen engagieren sich 45,7 Prozent ehrenamtlich, von den Frauen sind es 41,5 Prozent.

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Die starke Präsenz von Frauen erkläre sich vermutlich aus den Feldern, auf denen MO vor allem tätig sind: "Männer sind anteilig häufiger im Sport, beim Unfall- oder Rettungsdienst,in der freiwilligen Feuerwehr und in politischen Organisationen engagiert, während Frauen in sozialen, kirchlichen und religiösen Bereichen sowie in Schulen und Kindergärten häufiger vertreten sind", schreiben die Forscherinnen. Dort aber lägen auch die Arbeitsschwerpunkte von MO; "dies könnte erklären, warum sich hier mehr Frauen engagieren". Die Studie hebt die wichtige Rolle hervor, die MO damit dafür hätten, Kompetenzen von Frauen in die Gesellschaft zu tragen.

Es gibt Geld für Integration, aber nicht für Bildung

Soziales ist auch das Feld, das das Gros der Vereine und Verbände von Migrantinnen und Migranten besonders intensiv beackert. Das Team des SVR teilte nach Erhebung seiner Daten die Organisationen in drei Gruppen ein - deren Aktivitäten sich aber oft überlappten: die "kulturpflegenden", vor allem der Herkunftskulturen, die "multifunktional teilhabeorientierten" und diejenigen, die sich der Vertretung politischer Interessen widmen. Gruppe Nummer zwei sei dabei die größte. 227 oder 40 Prozent der vom SVR genauer untersuchten MO sahen sich so am besten beschrieben, als gemischte Dienstleisterinnen, als Brückenbauerinnen zwischen migrantischer und Mehrheitsgesellschaft, als Selbsthilfe-, Jugend- und Bildungsvereinigungen. Außerdem, heißt es in der Studie, "trifft die Beschreibung 'Impulsgeber für sozialen Wandel' ihr Selbstverständnis besser als das der anderen Organisationen". Gerade Typ zwei ist während der Jahre der großen Fluchtbewegungen nach Deutschland seit 2014 stark gewachsen; zugleich veränderten sich die schon bestehenden aktiven Verbände: Sie nahmen sich der Neuen an und erweiterten so ihre bisherigen Tätigkeitsfelder.

Trotz ihres viel breiteren Engagements werden MO aber nach wie vor vor allem "für ihre unmittelbare Integrationsarbeit gefördert", wie Cornelia Schu, die Leiterin des SVR-Forschungsbereichs, monierte. "Hier sehen wir Handlungsbedarf." Für ihre Sozial- und Bildungsarbeit kämen die Verbände deutlich weniger an Hilfen. Handlungsbedarf gibt es aber auch deren Seite. "Sie sollten sich stärker in den jeweiligen Fachverbänden engagieren und die Anerkennung als freie Träger anstreben." Eine arabisch geprägte Jugendorganisation könne so Teil eines Stadtjugendrings werden oder im Landesjugendhilfeausschuss mitwirken. Viele migrantisch etikettierte Vereine "hätten so leichter Zugang zu Fachförderung". Auch die Fachverbände, etwa etablierte Wohlfahrtsverbände, würden davon profitieren, weil sie in einer immer diverseren Gesellschaft erführen, wie sie sich interkulturell öffnen und womöglich auch in den eigenen Reihen gegen Diskriminierung angehen könnten. "Langfristig muss das Ziel Mainstreaming und reguläre Teilnahme sein", so Schu.

"Über die Feierabendkultur hinauswachsen"

Dafür ist aber mehr Professionalisierung nötig, hauptamtliches Personal und gut geschulte Ehrenamtlerinnen. Auch hier mahnt die Studie öffentliche Unterstützung an: Es sollten "mehr Möglichkeiten geschaffen werden, wenig professionalisierte MO ideell zu unterstützen, sowohl punktuell als auch dauerhaft." Staatssekretär Kerber verwies auf den üblichen Stress in der von ihm zitierten "Verbändedemokratie", etwa im Gesetzgebungsverfahren im Bundestag: "Ein Gesetzentwurf kommt oft an einem Montagabend, man hat 72 Stunden Zeit, um eine Stellungnahme zu verfassen. Um das zu können, auch um eine Stellungahme so zu verfassen, wie sie aussehen sollte, muss man irgendwann über die ehrenamtliche Feierabendstruktur hinauswachsen." Auch deswegen sei es für sein Haus, das BMI, "ein ganz natürlicher Ansatz" gewesen, diese Fähigkeit dauerhaft zu fördern. Viele Dachverbände - sie sind auf Bundesebene die Ansprechpartnerinnen der Politik - hätten bereits einen hohen Grad von Organisation und arbeiteten "extrem professionell". Kerber verwies etwa auf die Türkische Gemeinde (TGD), die bereits in den 1980er Jahren gegründet wurde.

Niels Friedrichs, der die Studie zusammen mit Francesca Barp, Marie Mualem Sultan und Karin Weiss erstellte, sieht die migrantische Landschaft da auf gutem Weg: Es gebe geradezu "einen Trend, Dachorganisationen zu gründen". Die Szene verändere sich rasch und arbeite auch zunehmend professioneller.

Andrea Dernbach

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