„Haben wir nicht erwartet“: Nato-Offiziere von Putins politischer Entschlossenheit überrascht
Estlands Premierministerin zufolge habe man zuvor Geheimdienstinformationen gehabt. Nato-Staaten werden bislang nicht gegen russische Truppen kämpfen.
Der Einmarsch Russlands in der Ukraine hat auch Nato-Offiziere überrascht – zumindest in dieser Form. Das erfuhr der Tagesspiegel von zwei ranghohen Soldaten einer der Bündnisarmeen. Zwar habe man nicht Russlands militärische Fähigkeiten unterschätzt, aber die politische Entschlossenheit.
„Dass Wladimir Putin nun womöglich die Regierung in Kiew zu vertreiben beabsichtigt, haben wir so nicht abgesehen“, sagte ein mit der Lage in Osteuropa befasster Offizier. „Dass Moskaus Truppen sofort auch Ziele im Zentrum der Ukraine angreifen würden, haben wir nicht erwartet.“
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Estlands Premierministerin Kaja Kallas sagte am Donnerstag, nachdem Russland in der Ukraine einmarschiert war, dass man zuvor Geheimdienstinformationen dazu gehabt habe. Wie konkret diese Informationen waren und wann genau sie an die Nachbarstaaten und die Nato gingen, ist aber unklar.
Weiter schrieb sie auf Twitter, dass sie den Angriff hart verurteile. Es sei ein Verbrechen, das die klarste internationale Reaktion und starke Antwort verlange.
Die baltischen Staats- und Regierungschefs sicherten der Regierung in Kiew ihre Unterstützung zu: Estland, Lettland, Litauen hatten zuletzt auch militärisches Material an die Ukraine liefern wollen, die drei Balten-Staaten gehören seit 2004 der Nato an. Für die gesamte Region ist formal die Kommandantur des Multinationalen Nato-Korps im polnischen Stettin zuständig.
Vor allem die USA haben ihre Präsenz in Osteuropa in den vergangenen Wochen verstärkt, allerdings war bislang auch klar: Nato-Staaten werden nicht in der Ukraine gegen russische Truppen kämpfen.
Die Ukraine ist weder Nato- noch EU-Mitglied, auch wenn insbesondere im Westen des Landes ein erheblicher Teil der Bevölkerung dafür plädiert.
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Innerhalb der Nato gilt die Region um die Memel in Südlitauen als besonders heikel. Dort befindet sich der litauisch-polnische Grenzstreifen, der nur circa 70 Kilometer lang ist. Im Nordwesten liegt das russische Kaliningrad, eine Exklave mit Moskauer Truppen, im Südosten das mit Russland verbündete Belarus, in dem Putin zuletzt ebenfalls eigene Einheiten trainieren ließ.
In der Nato befürchten in den letzten Jahren einige, Russland könnte den schmalen litauisch-polnischen Korridor besetzen, das Baltikum wäre von anderen Nato-Staaten dann zunächst abgeschnitten.