Ernstfall-Szenario im Baltikum: Wann der Westen entscheiden muss, ob er zum Kampf bereit ist
Laut dem renommierten US-Politikberater Robert Kagan könnte Russlands Armee bald Nato-Truppen gegenüber stehen. Ein Zeitalter globaler Unordnung droht.
Das sind harte, Unheil verkündende Sätze: Die Ukraine werde wohl bald als unabhängiger Staat nicht mehr existieren. Wladimir Putin müsse beim Wort genommen werden. Zu glauben, dass der Konflikt sich nur um die Ukraine drehe, sei reines Wunschdenken. China werde die aktuelle Bindung der US-Streitkräfte an Europa ausnutzen, um Taiwan anzugreifen.
Das schreibt Robert Kagan, einer der einflussreichsten amerikanischen Intellektuellen, in der „Washington Post“. Kagans Wort hat Gewicht, sein Verstand ist scharf, seine strategische Kompetenz unbestritten. Er ist einer der bekanntesten Neokonservativen in den USA, spezialisiert auf Außen- und Sicherheitspolitik.
Wird die Nato im Ernstfall das Baltikum beschützen?
Kagan beriet die republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain und Mitt Romney. Mit Donald Trump überwarf er sich, warf diesem „Faschismus“ vor und trat aus der Republikanischen Partei aus. Kagans Analyse der geopolitischen Krise rund um die Ukraine verdient Beachtung.
Laut Kagan wird Putin die gesamte Ukraine besetzen. Dann stünden russische Truppen direkt an den Grenzen zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Die Nato wäre unmittelbar herausgefordert. Am prekärsten sei die Lage für die drei baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen.
Wird die Nato sie im Ernstfall militärisch beschützen? Kagan hat Zweifel. „Die Fähigkeit der USA und der Nato, die Ostflanke der Allianz zu verteidigen, wird sehr eingeschränkt sein.“ Entzünden könnte sich der Streit an der Forderung Putins, eine direkte Landverbindung zur russischen Enklave rund um das einstige Königsberg zu erhalten.
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Den Einwand, Russland könne sich eine Besetzung der Ukraine nicht leisten, weil es permanent Anschläge auf seine Truppen befürchten müsse, weist Kagan zurück. Ein Aufstand gegen die Besatzungsmacht wäre nur durch Unterstützung aus Nachbarländern erfolgreich. „Wird das Polen übernehmen, mit russischen Truppen direkt an seiner Grenze? Das Baltikum? Oder Ungarn?“ Das würde Moskau einen Vorwand geben, auch diese Länder anzugreifen.
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Lachender Dritter der Entwicklung sei auf jeden Fall der chinesische Präsident Xi Jinping. Putins Aggression binde das Gros der US-Streitkräfte an Europa, was China in die Lage versetzt, Taiwan zu übernehmen. Russland und China verhielten sich ähnlich, schreibt Kagan, wie Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg. „Sie sind nicht wirklich verbündet, trauen einander nicht und koordinieren nicht direkt ihre Strategien. Trotzdem profitieren sie voneinander.“
Die USA wiederum wären mit zwei Großkonflikten überfordert. Die „Zwei-Kriege-Doktrin“, der zufolge Amerika in der Lage sein müsse, zwei Kriege gegen Großmächte simultan zu führen, sei 2012 für obsolet erklärt worden. „Die Landkarte Europas hat in den vergangenen Jahrhunderten viele Änderungen erlebt“, resümiert Kagan.
„Zurzeit spiegelt sie die Ausdehnung amerikanischer Macht und den Zusammenbruch der russischen Militärmacht wider. Als nächstes wird sie die Wiederkehr der russischen Militärmacht und den schwindenden amerikanischen Einfluss widerspiegeln.“ Im Zusammenspiel mit der chinesischen Machtausdehnung in Ostasien und der westlichen Pazifikregion zeichne sich der Beginn eines „Zeitalters globaler Unordnung“ ab.