Wende am Kapitalmarkt: Nachhaltigkeit wird zum Wettbewerbskriterium
Kapitalmarktakteure nehmen verstärkt ökologische und soziale Aspekte in den Blick. Doch es gibt keine einheitlichen Kriterien. Ein Gastbeitrag.
Prof. Dr. Dr. Ann-Kristin Achleitner ist Distinguished Affiliated Professor an der Technischen Universität München. Sie ist Mitglied des Präsidiums der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften und des Boards des Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton. Achleitner gehört zudem zu den Aufsichtsräten von Linde und MunichRe.
Finanz- und Realwirtschaft sind keine getrennten Welten. Der Kapitalmarkt kann vielmehr Motor beziehungsweise Transmissionsriemen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels sein, weil er an einem elementaren Bedürfnis der Unternehmen ansetzt: ihrer Finanzierung.
Gleichzeitig nehmen Kapitalmarkt-Akteure ökologische und soziale Fragen immer stärker in den Blick. Nachhaltigkeit – Environment, Social und Governance (ESG) – wird zu einem entscheidenden Kriterium. Seit diesem Mittwoch etwa gilt in der Europäischen Union eine Offenlegungs-Verordnung, in deren Zentrum nachhaltige Aspekte der Finanzprodukte und mehr Transparenz für Anleger stehen.
Eine kluge ESG-Strategie, daran besteht kein Zweifel, könnte die Position Europas und der USA im geopolitischen Ringen mit dem Rivalen China stärken. Denn schon wegen der epochalen Herausforderung des Klimawandels werden Nachhaltigkeitskriterien in den kommenden Jahren einen beschleunigten Umbau internationaler Kapitalanlagen auslösen.
Vermögensverwalter Blackrock sieht Auswirkungen von Klimawandel auf Bepreisung von Risiken
Das belegt auch der Brief, den Larry Fink Ende Januar an die Vorstandsvorsitzenden der größten Konzerne geschickt hat. Darin verweist der Chef des weltweit bedeutendsten Vermögensverwalters Blackrock auf die tiefgreifenden Auswirkungen, die der Klimawandel für die Bepreisung von Risiken und Vermögenswerte haben wird. Fink ruft Nachhaltigkeit zum neuen Investmentstandard aus. Außerdem erleben wir, dass sich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten ESG-Aktivisten als strategische Herausforderer renditeorientierter Finanzmarktakteure in Stellung bringen.
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Nun verzeichnen beispielsweise Nachhaltigkeits-Fonds schon seit Jahren ein starkes Wachstum. Gerade in Kontinentaleuropa konnten sich einzelne Unternehmen bereits Meriten erwerben. Man verfolgte schon länger den Ansatz, Bedürfnisse verschiedener Anlegergruppen zu berücksichtigen. Auch in einzelnen Staaten gibt es immer mehr Nachhaltigkeits-Vorschriften. Eine grundsätzliche Verhaltensveränderung wurde jedoch erst ausgelöst, nachdem diese Erweiterung des Beurteilungsschemas von Unternehmen auch im Anforderungskatalog der Investoren angekommen war.
Doch wie bei vielen Dingen steckt auch hier der Teufel im Detail. Denn will ein Unternehmen dem neuen Trend gerecht werden, eröffnet sich ein komplexes Feld: So ist beispielsweise zu unterscheiden zwischen der ESG-konformen Ausrichtung eines Unternehmens zur Vermeidung von Risiken, der Produktion ESG-bezogener Produkte für Kunden und der Ausrichtung des Unternehmens an ESG-Zielen als Selbstzweck. Klar dürfte jedenfalls sein, dass Nachhaltigkeitskriterien in der Wettbewerbsstrategie der Unternehmen eine zunehmend wichtige Rolle spielen.
Normendschungel führt zu immensem Berateraufwand
Allerdings sehen sich Unternehmen, die entweder schon am Kapitalmarkt sind, sich auf ihn vorbereiten oder aber, wie man häufiger sieht, als privates Unternehmen hieran anlehnen, bei der Wahl der zu befolgenden Standards mit einem regelrechten Normendschungel konfrontiert. Die ESG-Herausforderungen sind global – die Anforderungen aber national und fragmentiert, zugleich komplex und anspruchsvoll in der Unternehmens-Umsetzung.
Die Folge: Weitverbreitete Unsicherheit und ein immenser Beratungsaufwand, der nicht nur viel Geld und Zeit kostet, sondern auch die unternehmensinterne Bürokratie anwachsen lässt – obwohl der Informationswert der Angaben für Investoren gleichzeitig nicht selten zu wünschen übrig lässt. Anwendern und Adressaten stehen weltweit gleich mehrere verschiedene Standardsetzer von sogenannten ESG-Disclosure Frameworks gegenüber.
Damit muss Schluss sein, denn Unternehmen und Investoren brauchen einheitliche Standards. Im September 2020 haben das World Economic Forum und die vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ein White Paper veröffentlicht. In dem Papier geht es darum, wie nachhaltige Unternehmenswerte geschaffen und gemessen werden können. Ebenfalls im September erklärten die fünf großen Normsetzer ihre Absicht, gemeinsam ein umfassendes Regelwerk zur Berichterstattung zu erarbeiten. Das wäre in der Tat ein entscheidender Schritt nach vorne, der hervorragende Zukunftsperspektiven eröffnen würde.
Was strebt man eigentlich an?
Denn entscheidend dürfte es sein, die künftigen quantitativen und qualitativen Ziele aufzuzeigen – sowohl kurz- als auch langfristig, das heißt für die nächsten Jahrzehnte. Es muss Klarheit herrschen, was man anstrebt. Die Empfehlungen der wichtigen, auch für die Banken relevanten Task Force on Climate-Related Financial Disclosure des Financial Stability Board weisen ebenfalls in diese Richtung: Szenarioplanungen und darauf abgestimmte ESG-Ziele, die einzelne Unternehmen dann auf ihre spezifische Situation runterbrechen können. Unternehmen und auch Aufsichtsräte brauchen eine Richtschnur, an der sie sich orientieren können.
Unverzichtbar ist dabei jedoch eine differenzierte Betrachtung von Nachhaltigkeits-Entwicklungen, etwa für unterschiedliche Branchen. Volkswirtschaftlich gesehen wäre es sogar gefährlich, alle Industrien über einen Kamm zu scheren. Einige Branchen sind natürlich klimarelevanter als andere. Wichtig ist hier weniger die absolute Höhe der derzeitigen Nachhaltigkeits-Kennzahlen, sondern der gewählte Pfad und der Fortschritt, der auf ihm erreicht wird. Wie stellen die Unternehmen sich für die kommenden Jahre und Jahrzehnte auf und welche Ziele verfolgen sie? Inwieweit halten sie diese Ziele auch ein? Insofern ist auch hier ein Kapitalmarkt-Ansatz, der in Branchen denkt, richtig.
Kleine Unternehmen dürfen nicht ausgebremst werden
Darüber hinaus ist es von elementarer Bedeutung, bei der Regulierung und Beurteilung von Unternehmen deren jeweilige Größe mit in die Beurteilung einzubeziehen. Auch gut gemeinte Regeln haben häufig unbeabsichtigte Folgen, etwa wenn kleinere Unternehmen durch ein Zuviel an Normvorgaben ausgebremst werden.
Schließlich darf beim Blick auf den Kapitalmarkt eines nicht vergessen werden: Die Verfolgung von ESG-Zielen ist auch für andere Gruppen wichtig, insbesondere für die Mitarbeiter des Unternehmens. Sie in die Entwicklung und Umsetzung von Nachhaltigkeits-Strategien eng einzubinden, ist nicht nur notwendig, sondern eröffnet auch die Chance, die Mitarbeiter-Verbundenheit zu stärken.
Ziel sollte es sein, global so weit wie möglich einheitliche ESG-Kriterien durchzusetzen. Eine kluge ESG-Strategie bietet den USA und Europa die Möglichkeit, sich beim Megathema Nachhaltigkeit wohltuend vom intransparenten Rivalen China abzuheben – und so Pluspunkte auf der geopolitischen Bühne zu sammeln.
Ann-Kristin Achleitner
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