241. Verhandlungstag im NSU-Prozess: Mysteriös: Post an Phantom "Meral Keskin" wurde zugestellt
Immer neue Merkwürdigkeiten im Fall des nicht existierenden Opfers Meral Keskin im NSU-Prozess. Die Aussage eines BKA-Beamten wirft weitere Fragen auf.
Im Fall des Phantom-Opfers im NSU-Verfahren gibt es ein weiteres, mysteriös erscheinendes Detail. Post des Oberlandesgerichts München für die nicht existierende „Meral Keskin“ ging offenbar über einen längeren Zeitraum an ein reales Opfer des NSU-Terrors. Die seltsame Geschichte berichtete am Dienstag ein Beamter des Bundeskriminalamts im NSU-Prozess. Der Fall „Keskin“, der bereits reichlich Wirbel verursacht hat, wird damit noch merkwürdiger.
Bei dem mutmaßlichen Empfänger der Schreiben aus München handelt es sich um Atilla Ö., er wurde 2007 beim Bombenanschlag der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in der Kölner Keupstraße verletzt. Atilla Ö. spielt im Fall „Meral Keskin“ eine fragwürdige Rolle.
Nachdem Anfang Oktober herausgekommen war, dass es eine Frau Keskin nicht gibt, begab sich der Beamte des BKA nach Köln zu Atilla Ö. Zuvor hatte der Anwalt des Phantom-Opfers, Ralph Willms, in einer Presseerklärung Atilla Ö. beschuldigt, ihm die Existenz der angeblich verletzten Frau vorgetäuscht zu haben. Willms erstattete Strafanzeige gegen Atilla Ö. Das Münchner Gericht veranlasste das BKA, in Sachen „Meral Keskin“ zu ermitteln. Der Beamte suchte dann mit Kollegen der Kölner Polizei Atilla Ö. an dessen Wohnanschrift auf. Der BKA-Mann hatte den Verdacht, bei „Meral Keskin“ könne es sich um die Mutter von Atilla Ö. handeln. Das BKA hatte über Anwalt Willms Fotos einer etwas älteren Frau erhalten, auf einem Bild ist ihr linkes Auge mit einem Verband bedeckt. Willms ging angeblich davon aus, „Meral Keskin“ sei auf den Fotos.
Der Beamte nahm die Bilder mit zu Atilla Ö. und traf bei ihm auch dessen Mutter. Sie sei höchstwahrscheinlich mit der Frau auf den Fotos identisch, sagte der Beamte am Dienstag. Er habe aber die Mutter nicht befragt, sondern nur mit ihrem Sohn Atilla gesprochen. Warum der Beamte auf ein Gespräch mit der Mutter verzichtet hatte, blieb am Dienstag unklar.
Immerhin sagte Atilla Ö. den Polizisten, eine „Meral Keskin“ gebe es nicht. Atilla Ö. habe das „spontan“ geäußert und sich über Willms aufgeregt, berichtete der Beamte. Der Anwalt habe 5000 Euro eingesteckt, behauptete Atilla Ö. Das Geld war mutmaßlich die staatliche Entschädigung, die den Opfern des Anschlags in der Keupstraße gezahlt worden war. Am Ende des Gesprächs habe Atilla Ö. geäußert, es habe ihn gewundert, dass Post des Münchner Gerichts für „Meral Keskin“ bei ihm zuhause angekommen sei. Der BKA-Mann wunderte sich auch und schaute am Wohnhaus nach, ob der Name Meral Keskin auf einem Klingelschild oder einem Briefkasten stand. Doch da war nichts. Hatte Atilla Ö. etwa schnell ein Schild entfernt, als das Phantom-Opfer „Meral Keskin“ aufgeflogen war?
Machten Anwalt und Atilla Ö. vielleicht gemeinsame Sache?
Wie die Gerichtspost zu Atilla Ö. fand, ist nur eine der Fragen, die in dem bizarren Fall zu klären sind. Offen bleibt auch, wo die 5000 Euro Opferentschädigung verblieben sind. Und ob Ö. und Willms gemeinsam Sache machten. Oder ob der Anwalt, wie von ihm angegeben, tatsächlich von Atilla Ö. reingelegt wurde und dieser seine Mutter als „Meral Keskin“ präsentiert hat.
So oder so ist die Sache für beide unangenehm, für Willms noch mehr als für Atilla Ö. Gegen den Anwalt ermittelt die Staatsanwaltschaft Aachen wegen des Verdachts auf Betrug. Willms habe in den fast zweieinhalb Jahren, die der NSU-Prozess nun bereits dauert, staatliche Gelder in Höhe von mehr als 100.000 Euro für Reisekosten und als Vorschuss auf Sitzungsgelder bekommen, heißt es in Justizkreisen . Und dann ist noch ein Vorwurf anhängig, der für Willms gravierende berufliche Folgen haben könnte.
In der Presseerklärung von Anfang Oktober gab er zu, Atilla Ö. eine Provision für die Vermittlung des Mandats von „Meral Keskin“ gezahlt zu haben. Das ist laut Bundesrechtsanwaltsordnung unzulässig. Die Kölner Generalstaatsanwaltschaft leitete dann gegen Willms ein „anwaltsgerichtliches Verfahren“ ein. Im schlimmsten Fall droht Willms der Verlust der Zulassung. Der Anwalt äußert sich nicht mehr öffentlich. Als das BKA am ersten Oktoberwochenende auch Willms zu „Meral Keskin“ befragen wollte, war er plötzlich krank.
Für den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl bleibt es unangenehm
Peinlich ist der Fall auch für das Oberlandesgericht München. Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats, Manfred Götzl, und zwei Kollegen hatten 2013, kurz vor Beginn des Prozesses, auf Antrag von Anwalt Willms die Nebenklage für „Meral Keskin“ zugelassen. Obwohl die Bundesanwaltschaft gewarnt hatte, eine Frau dieses Namens tauche nirgendwo in den Ermittlungsakten auf. „Meral Keskin“ war damit das einzige „Opfer“ im NSU-Komplex, das die Strafverfolgungsbehörden nicht kannten. Die Bundesanwaltschaft bot Götzl Nachermittlungen an, doch er und die Kollegen hielten das für unnötig. So nahm die Blamage ihren Lauf.
Dennoch wies Götzl vergangene Woche den Antrag von drei Verteidigern der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ab, er und die zwei beisitzenden Richter sollten dienstliche Äußerungen abgeben. Dass Götzl und die Kollegen zu ihrem Fehler schweigen, wollen Zschäpes Anwälte jedoch nicht hinnehmen. Am Dienstag beanstandeten sie Götzls Verfügung, den Antrag auf Abgabe dienstlicher Äußerungen abzulehnen. Die Verteidiger verlangen eine Entscheidung des ganzen 6. Strafsenats.
Wie die ausfallen wird, ist allerdings unschwer zu ahnen. Doch Zschäpes Anwälte haben auch die Revision nach dem zu erwartenden Urteil gegen die Angeklagte im Blick. Wenn die Verteidiger den Richterspruch anfechten, dürfte der Fall „Meral Keskin“ eines der zentralen Argumente sein.