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Schnittchen und Aussprache frei: Der Bundespräsident und seine Gäste in Gera.
© imago

Steinmeier im Bürgergespräch: Mundwinkel unten, Mundwinkel oben

Seine "Kaffeetafeln" überall im Land sollen Bürgerinnen und Bürger ins Gespräch bringen. Diese Woche stand der Kaffeetisch des Bundespräsidenten in Gera.

Ein Kommunikationsjob ist Bundespräsident sowieso. Doch der aktuelle Amtsinhaber ist seit einiger Zeit ganz erfolgreich dabei, ihn auf neuesten Stand zu bringen. Frank-Walter Steinmeier hält nicht nur ganze Reden in fremden Sprachen, er hat sich auch ein kleines soziales Netz erfunden. Prinzip: Raus aus dem eigenen Echoraum, rein in die Konfrontation,  aber eine mit Augenkontakt. Es gilt das gesprochene Wort und nicht die in die Tastatur gehauene Wut. „Kaffeetafel“ haben sie das Format im Schloss Bellevue selbstironisch getauft, und so altmodisch wie das Wort erscheint zunächst die Versuchsanordnung. Aber weil ein Bundespräsident mehr symbolische Macht hat als üblicherweise die Großtante, sind Steinmeiers Familienzusammenführungen eher Versammlungen ganzer Stadtgesellschaften. Oder doch eines Ausschnitts davon.

Die vielen Abstürze einer Stadt

Steinmeiers Kaffeetafeln standen schon in Leipzig und Neumünster, in Bonn und Chemnitz. Anfang dieser Woche ging es nach Gera. Die Stadt in Ostthüringen, vor etwa drei Generationen noch eine der reichsten in Deutschland, hat mehrere Abstürze erlebt. Erst verlor sie die Textilindustrie, Quelle ihres Wohlstands, mit der Wende auch den Uranabbau im nahen Ronneburg und Zehntausende Bürgerinnen und Bürger, die sich nach Westen aufmachten. Spitzenplätze erreichte zeitweise die Arbeitslosigkeit (mehr als 20 Prozent), die inzwischen mit acht Prozent wieder Richtung Bundesschnitt tendiert, und neuerdings die örtliche AfD, die bei der Bundestagswahl 2017 wie kürzlich bei der Landtagswahl auf etwa 28 Prozent kam.

Das Klima in der Stadt macht das Leben für die etwa 4000 Menschen aus Syrien zu einem gemischten Vergnügen. "Ich werde mindestens einmal pro Woche auf der Straße angegriffen und beleidigt, weil ich ein Kopftuch trage“, sagt Reta Ismail dem Tagesspiegel. Auch die 46-jährige Lehrerin aus Damaskus sitzt an Steinmeiers Tisch. Kürzlich habe ihr eine alte Frau wütend zugerufen, das hier sei ein christliches Land, sie solle sich gefälligst anpassen. Dabei gehören in Gera – auch dies bundesdeutscher Rekord - fast 90 Prozent keiner der Kirchen an. Ismail machen solche Attacken am traurigsten, wenn ihre Kinder dabei sind. „Ich erzähle ihnen zu Hause von Toleranz und Frieden und dann erleben sie das.“ Trotzdem sei sie „dankbar und glücklich“ über ihre Aufnahme in der Stadt und die vielen deutschen Freundinnen und Freunde. Und sie teilt, wie sich am Kaffeetisch herausstellt, ähnliche praktische Sorgen wie die meisten, etwa die AfD-Funktionärin direkt neben ihr. Deren Tochter, ausgebildete Lehrerin, zog gegen ihren Willen weg, weil sie in Gera keine Stelle bekam. Dabei fielen ganze Schultage wegen Lehrermangels aus, wie der junge Jura-Student bestätigt, der im letzten Jahr noch in Gera Schüler war.

Schulausfall - das Problem aller

„Die fachliche Ausbildung ist ein Riesenproblem“ auch für den Maurermeister Rainer Kneisel, dessen Betrieb der Nachwuchs ausgeht. Ismails drei Kinder gehen alle aufs Gymnasium, die Tochter in der Oberstufe wolle einmal Pharmazie studieren „aber ständig fällt Chemie aus.“ „Warum“, fragt Ismail, die jetzt Sozialarbeit studiert. „ist das so unflexibel? Viele von uns sind ausgebildete Mathematik- oder Englischlehrer, warum dürfen die nicht unterrichten?“ Stattdessen landeten Menschen mit 20 Jahren Lehrerfahrung in Kinderhorten. "Das ist hart“.

Es bleibt nicht beim Klagen. Als der Bundespräsident nachhakt, kommt auf den Tisch, was gut läuft in der Stadt: Die Jungen, die gern bleiben oder zurückkommen, wie gleich zwei langjährige Ehrenamtler aus Geraer Sportvereinen berichten. „Da hat sich etwas verändert“, sagt der Fußballtrainer. Die Töchter der Inhaberin eines Schnellimbisses waren eine Zeitlang in den USA und im Rhein-Main-Gebiet. Sie kamen zurück, obwohl sie anderswo größere Weltoffenheit und Entspanntheit schätzengelernt hatten: In Gera, sagt die Mutter, gingen „die Mundwinkel ja eher mal nach unten als nach oben.“ Auch Rainer Kneisel kann Ende des Jahres trotz aller Probleme den Maurerbetrieb an seinen Sohn weitergeben, wie vor 42 Jahren sein Vater an ihn. Und Kay Kuntze, Generalintendant des Theaters Altenburg-Gera mit „West-Berliner Migrationshintergrund“ liebt die Arbeit in Gera, weil „man das Theater hier gut mit der Stadt verzahnen kann“. Als quasi „kultureller Alleinversorger“ finanziert sein Drei-Sparten-Haus neben einem theaterpädaogogischen Programm auch Kultur außerhalb, darunter ein Kinder- und Jugendballett. Den Fachkräftemangel in der Theatertechnik bekämpft man neuerdings, indem man selbst ausbildet – nicht zuletzt junge Frauen. Die bessere Geschlechtermischung habe ganz nebenbei das Klima in der Technik stark verbessert, sagt Kuntze.

Wo die "Fremdenführerin" zu den Fremden führt

„Foren schaffen, wo Menschen sich begegnen, physisch und direkt“, wie es Kuntze sagt: Das versucht tut auch die freie Autorin am Tisch, die zugleich als Fremdenführerin arbeitet. Allerdings hat sie den Beruf listig umgedeutet. Sie führt alteingesessene „Gersche“, viele skeptisch, zu ihren neuen Mitbürgerinnen und -bürgern, in die Moschee oder in syrische Lebensmittelläden. Mit Erfolg, wie sie meint: „Die Leute rennen dann nicht raus und sind bekehrt.“ Aber die Angst schwinde, das ein oder andere Vorurteil werde zertrümmert. Oder bei nächster Gelegenheit „ein Gebetsteppich als neuer Bettvorleger gekauft“.  

Noch ein Beleg, dass Social Networks sich auch ganz traditionell neu knüpfen lassen und dass sie halten können. Das nächste Networking des Bundespräsidenten ist schon in Vorbereitung.

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