Erst- und Zweitstimmenergebnisse liegen auseinander: Was das Wahlergebnis in Thüringen bemerkenswert macht
Warum landet die Linke vor der CDU? Und was machen AfD-Wähler ohne Direktkandidaten ihrer Partei? Ein Blick auf eine ganz besondere Wahl.
Das Thüringer Wahlergebnis ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Dass im Parteienspektrum zwischen Linken und AfD keine Mehrheit möglich ist, gehört dazu. Dass es nun zu ungewöhnlichen Experimenten kommen kann, ist eine andere Folge. Eine Neubewertung der Linkspartei, die vielleicht gar nicht allen in dieser Partei gefällt, dürfte hinzukommen.
Ein Effekt sticht in diesem Zusammenhang ins Auge: Die Erst- und Zweitstimmenergebnisse liegen teils deutlich auseinander. 27,2 Prozent der Erststimmen sammelten die Direktkandidaten der CDU in den Wahlkreisen ein, was zu 21 Direktmandaten führte. Die Union ist damit stärkste Kraft bei den Erststimmen. Aber bei den Zweitstimmen kippt die Sache hin zur Linken: Die Partei von Ministerpräsident Bodo Ramelow liegt hier deutlich vor der CDU – 31 Prozent gegenüber 21,8 Prozent bedeuten eine klare Distanz, während bei den Erststimmen die Linke nur bei 25,8 Prozent landet.
Deutet sich hier ein Splitting der besonderen Art an? Kann es sein, dass viele Wähler, die Wahlkreiskandidaten der CDU bevorzugten, mit der – für die Sitzverteilung im Landtag entscheidenden Stimme – die Linke wählten und damit Ramelows Partei den ersten Platz bescherten? Nun hatte die CDU zwar auch schon 2014 mehr Erst- als Zweitstimmen, aber die Differenz betrug nur vier Prozentpunkte. Am Sonntag lag sie zwar mit 5,5 Punkten nicht weitaus höher, aber wegen der geringeren Gesamtstimmenzahl der Union im Vergleich zu 204 bedeutet das: Fast jeder vierte Wähler, der Mike Mohrings Partei im Wahlkreis den Vorzug gab, wählte mit der Zweitstimme eine andere Partei. Bei der Linken betrug der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimmenanteil ebenfalls gut fünf Prozentpunkte, aber eben zugunsten der Landeslistenstimmen. Dass hier gar kein Zusammenhang besteht, ist unwahrscheinlich.
„Sehr ungewöhnlich“
Der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen gibt zwar zu bedenken, dass „ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wählerschaft“ das Zweistimmensystem nicht ganz verstanden hat. Manche Wähler glauben, die Erststimme sei wichtiger für die Kräfteverhältnisse der Parteien.
Aber das allein kann die Differenzierung in Thüringen nicht erklären, die Behnke als „sehr ungewöhnlich“ bezeichnet. Denn üblicherweise bekommen die Parteien, die um die Wahlkreise konkurrieren, mehr Erst- als Zweitstimmen. Behnke kann sich daher durchaus vorstellen, dass ein ungewöhnliches Splitting zwischen CDU (Erststimme) und Linken (Zweitstimme) von CDU-nahen Wählern kommt, die damit ein Signal setzen wollten: „Sie wollten damit ausdrücken, dass CDU und Linke sich zusammenraufen sollen vor dem Hintergrund der Stärke der AfD.“
Es sind also Wähler, denen Stabilität in der Landespolitik wichtig ist – und die verbinden sie mit der Wahl von CDU-Direktkandidaten im Wahlkreis und einem Kreuzchen bei der linken Landesliste, die tatsächlich aber eher eine Stimme für Ramelow ist, der zur Wahl hin bei seinen Umfragewerten immer mehr in die Rolle des starken Ministerpräsidenten hineingerückt ist.
Breites buntes Gegenlager
Für diese Interpretation spricht auch, dass zwei Drittel der CDU-Wähler in der Nachwahlbefragung von Infratest dimap angesichts des Wahlergebnisses dafür plädierten, die Union und ihr Spitzenmann Mike Mohring sollten nun ihre strikte Ablehnung einer Kooperation oder auch Koalition mit der Linken überdenken. Dass auch SPD, Grüne und FDP weniger Zweit- als Erststimmen hatten, ebenfalls ungewöhnlich, bestätigt den Ramelow-Effekt und den Eindruck, dass ein Teil der Wählerschaft die Wahl als Polarisierung zwischen der aufsteigenden AfD und einem breiten Gegenlager von links zur rechten Mitte wahrgenommen hat, mit dem Ministerpräsidenten als der Symbolfigur dieses Gegenlagers.
So gesehen hat das Element der Personalwahl am Sonntag in Thüringen eine stärkere Rolle gespielt als üblich. Dafür sprechen auch Ergebnisse wie die im Wahlkreis Gotha II, wo der SPD-Direktbewerber Matthias Hey mit 38,2 Prozent der Erststimmen in den Landtag gewählt wurde, die Sozialdemokraten aber nur 16,4 Prozent der Zweitstimmen bekamen. Hey sammelte Stimmen vor allem zu Lasten der Linken, aber wohl auch bei allen anderen Parteien abgesehen von der AfD. Und in Jena lag die Grüne Anja Siegesmund mit 24,7 Prozent der Erststimmen weit vor dem Zweitstimmenergebnis ihrer Partei (16,3 Prozent), was vor allem auf Stimmen aus Linkspartei und SPD zurückgehen dürfte.
Will heißen: In bestimmten Konstellationen ist Person so wichtig wie Partei oder sogar wichtiger.
Dann eben CDU oder FDP
Und wie sieht es mit Blick auf die AfD aus? Landesweit holten sie ungefähr so viele Erst- wie Zweitstimmen, die Rechtspopulisten wirken so wie ein geschlossener Block. AfD-Wähler sind in aller Regel reine Parteiwähler, denen die kandidierenden Personen weniger wichtig sind. Doch was tun sie, wenn die AfD ohne Direktkandidaten antritt? Das war im Wahlkreis Greiz I der Fall. Das Ergebnis: Die Erststimmen der AfD-Wähler (und die meisten gaben wohl beide Stimmen ab) landeten ungefähr zur Hälfte bei der CDU und der FDP. Entsprechend war der Effekt im Wahlkreis Altenburger Land II, wo ebenfalls Union und FDP bei den Direktstimmen vom Fehlen eines AfD-Bewerbers profitierten.
Personalwahl kann auch ganz andere Wirkungen haben. So kostete die (letztlich erfolglose) Direktbewerbung des SPD-Spitzenkandidaten Wolfgang Tiefensee im Wahlkreis Gera II den dortigen Linken-Kandidaten das Direktmandat, denn offenkundig gaben nicht wenige Linken-Zweitstimmenwähler dem Sozialdemokraten die Erststimme.
Das Direktmandat gewann so – quasi als indirekter Splittingprofiteur - der AfD-Mann. Ähnliche Ergebnisse gab es in Gotha I und Schmalkalden/Meiningen II durch starke SPD-Direktkandidaten.