Berlins Regierender schreibt Brief an Merkel: Müller und andere Länderchefs fordern „nationalen Impfplan“
Ein Gipfel mit der Kanzlerin am Montag soll Klarheit über Zeitpläne und verfügbare Corona-Impfstoffe bringen. Die Länder wollen mehr Tempo und Verlässlichkeit.
Vor dem am Montag geplanten Impfgipfel bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dringen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder auf mehr Tempo bei der Impfkampagne sowie Klarheit über die verfügbare Menge an Impfstoffen.
Die Impfungen in Deutschland und der EU hatten kurz vor dem Jahreswechsel begonnen. Begleitet waren die ersten Wochen von Lieferschwierigkeiten einzelner Hersteller, Problemen bei der Terminvergabe und viel Unmut über fehlenden Impfstoff.
Bereits am Sonntag sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit den Vorstandschefs jener Herstelle, mit denen die EU Lieferverträge abgeschlossen hat. Am Abend verkündete sie, der Hersteller Astrazeneca wolle im ersten Quartal nun doch mehr Impfstoff an die Europäische Union liefern als angekündigt. Es kämen neun Millionen Dosen hinzu, also insgesamt 40 Millionen Dosen. Das ist die Hälfte der ursprünglich anvisierten Menge von 80 Millionen Dosen.
Von der Leyen schrieb auch, Astrazeneca wolle eine Woche früher mit der Lieferung beginnen als geplant. Die Firma wolle zudem ihre Produktionskapazität in Europa ausbauen. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sprach von einer guten Nachricht und einem guten Schritt nach vorn.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) wandte sich am Wochenende vor dem Gipfel in einem persönlichen Brief an die Kanzlerin. Der aktuelle Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), bekräftigte seine Forderung nach einem „nationalen Impfplan“. Wie „Spiegel“ und „Bild“ berichteten, fordert Müller in dem Schreiben die „kurzfristige Erarbeitung eines nationalen Impfplans“. Ähnlich hatte er sich bereits am Freitag geäußert.
„Es ist in der aktuellen Situation von entscheidender Bedeutung, dass wir alle verfügbaren Kapazitäten am Hochtechnologiestandort Deutschland und in der Europäischen Union mobilisieren, um die Impfstoffproduktion zu unterstützen“, schreibt Müller dem „Spiegel“ zufolge. Dazu gehörten sowohl Lizenzproduktionen als auch die Ausweitung von Zulieferungen.
Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) forderte vor dem Impfgipfel eine konkrete und realistische Strategie. „Ich erwarte, dass die Bundesregierung einen verlässlichen nationalen Impfplan vorlegt, auf den sich Länder und Kommunen dann entsprechend einstellen können“, sagte er einer Mitteilung der Staatskanzlei zufolge am Sonntag. „Ankündigungen, die anschließend fortlaufend geändert werden, erschweren Ländern und Kommunen die Arbeit und verunsichern die Bürgerinnen und Bürger.“
Darüber hinaus müsse der Bund klare Wege aufzeigen, wie die Produktion von Impfstoffen beschleunigt werden könne - „indem beispielsweise andere Pharmaunternehmen mit ihren Produktionsstätten die Impfstoffhersteller unterstützen“. Insbesondere vor dem Hintergrund der sich zunehmend ausbreitenden Mutationen „müssen wir beim Impfen deutlich an Tempo zulegen“, sagte Weil. „Die Impfzentren stehen bereit, was fehlt ist ausreichender Impfstoff.“
Schwesig: „Zu wenig und zu spät bestellt“
Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschefin Manuela Schwesig (SPD) mahnte angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie ein deutlich höheres Impftempo an. „Wir können das öffentliche Leben nicht auf Dauer herunterfahren. Schon jetzt haben wir mit massiven wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen“, sagte Schwesig in Schwerin.
Die inzwischen auch in Deutschland festgestellten ansteckenderen Virus-Mutationen erhöhten den Druck noch, schneller mit den Impfungen voranzukommen. Der Impfstoff sei der beste Weg, um Schritt für Schritt aus der Pandemie zu kommen, sagte Schwesig. Schwesig, die sich in der Corona-Pandemie derzeit mit Kritik an der Krisenpolitik Merkels profiliert, sagte, in den Bundesländern sei in kurzer Zeit die erforderliche Infrastruktur für die Impfkampagne aufgebaut worden. In Mecklenburg-Vorpommern habe der Impfstart gut funktioniert, und zusammen mit Rheinland-Pfalz weise das Land die bundesweit höchste Impfquote auf.
„Die Impfzentren und mobilen Impfteams leisten sehr gute Arbeit. Aber wir könnten viel mehr Menschen schützen, wenn wir mehr Impfstoff zur Verfügung hätten“, sagte Schwesig. Der Bund habe aus nachvollziehbaren Gründen die Verhandlungen mit den Herstellern an die EU weitergeben. „Aber es ist offensichtlich zu wenig und zu spät bestellt worden“, beklagte die SPD-Politikerin. Über notwendige Konsequenzen daraus müsse nun geredet werden.
„Meine klare Erwartung an den Impfstoffgipfel ist, dass wir vom Bund einen verlässlichen Zeitplan bekommen, wann wir mit welchen Impfstoff-Lieferungen zu rechnen haben“, machte Schwesig deutlich. Bislang reichten die Aussagen nur bis Mitte Februar. „Wir brauchen mehr Verbindlichkeit und mehr Verlässlichkeit“, mahnte sie.
[Mehr über Manuela Schwesig und ihre Kritik am Krisenmanagement der Kanzlerin können Abonnenten von T+ hier lesen: Bald SPD-Chefin? :Schwesig profiliert sich in der Pandemie als Merkels Gegenspielerin]
Angesichts erheblicher Kritik am schleppenden Beginn der Impfkampagne in Deutschland und der Produktions- und Lieferprobleme bei einigen Herstellern will Kanzlerin Merkel am Wochenbeginn mit den 16 Spitzen der Bundesländer sowie Vertretern von Impfstofffirmen und der EU-Kommission über die Lage beraten.
Die Bundesregierung hat angekündigt, Möglichkeiten für einen Ausbau der Impfstoffproduktion ausloten zu wollen. Doch Regierungssprecher Steffen Seibert hatte schon am Freitag Erwartungen gedämpft, dass beim Impfgipfel schon mit konkreten Beschlüssen zu rechnen sei.
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Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte Transparenz und einen verlässlichen Plan für die Impfstoff-Lieferung. „Die Menschen sind völlig verunsichert“, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“. Das Dilemma sei, dass die Logistik stehe, aber nicht geimpft werden könne. „Daher bedarf es endlich eines verlässlichen Lieferplans für die nächsten Wochen und Monate“, sagte Söder. „Ein Stop and Go beim Impfen geht auf Dauer nicht.“ Insgesamt falle Europa beim Impfen deutlich hinter andere Länder der Welt zurück, das dürfe nicht sein. Daher brauche es auch einen Überblick über mögliche Produktionskapazitäten in Deutschland. „Es sollte alles getan werden, um die Produktion in Deutschland auszuweiten“, sagte Söder.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) beklagte, dass es trotz der angekündigten fünf Millionen weiteren Impfdosen nicht einmal für vier Wochen Lieferklarheit gebe. „Die Mengen des Impfstoffs von Moderna sind um 20 Prozent gekürzt, die Ankündigungen von Astrazeneca stehen unter Änderungsvorbehalt. Auf dieser Basis können wir noch immer nicht verlässlich Impftermine vergeben“, sagte Dreyer der „Bild am Sonntag“.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich fordert vom Gipfel „genauere und verbindliche Aussagen darüber, wie die Pharmaindustrie ihre Lieferverpflichtungen einhalten will und wie sie die Produktion von Impfstoffen aufstocken kann, damit die Verimpfung vor Ort reibungslos funktionieren kann“.
Gesundheitsminister Spahn müsse „einen verlässlichen nationalen Impfplan“ vorlegen, sagte Mützenich der „Welt am Sonntag“. Der Plan müsse aufzeigen, „welcher Impfstoff wann und für welche Gruppe zur Verfügung steht. Und wie gegebenenfalls Lücken gefüllt werden, wenn es Probleme gibt.“
Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) will beim Impfgipfel Tacheles reden. „Das darf keine Show-Veranstaltung werden, sondern wir müssen nachvollziehen können, wo die Probleme sind und diese dann auch abstellen“, sagte der derzeitige Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz der „Augsburger Allgemeinen“. „Das Maß der Dinge ist, dass wir möglichst viel Impfstoff haben und dass der auch zuverlässig und planbar kommt.“
Im Freistaat gebe es in den mehr als 100 Impfzentren immer wieder Schwierigkeiten, weil Impflieferungen verschoben würden und dadurch zu wenige Dosen geimpft werden könnten. „Es ist schwierig, Leute heimzuschicken, die schon Impftermine vereinbart haben“, sagte Holetschek.
Grünen-Chef Robert Habeck forderte eine „Notimpfstoffwirtschaft“, um mehr Impfstoff zu produzieren. Alle Pharmakonzerne seien „unverzüglich ihren Fähigkeiten entsprechend in die Produktion einzubeziehen“, sagte Habeck den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber. „Jede mögliche Produktionsstätte muss auf Corona-Impfstoffe umgestellt werden. Zugelassene Impfstoffe müssen im Notfall auch mit einer Zwangslizensierung von anderen produziert werden“, sagte Weber der „Bild am Sonntag“.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zeigte am Samstag Verständnis für Frust und Ungeduld, warb aber auch um Vertrauen. „Es kommen jede Woche Impfstoffe, und es werden auch mehr, Zug um Zug.“ Man habe ein Jahr nach Beginn der Pandemie drei zugelassene wirksame Impfstoffe. Neben den Vakzinen von Biontech/Pfizer und Moderna hatte die EU am Freitag auch jenes von Astrazeneca zugelassen.
Seit Beginn der Impfkampagne wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Deutschland mehr als 3,5 Millionen Dosen ausgeliefert und 2,2 Millionen Dosen gespritzt. Bis zum 22. Februar würden mindestens weitere 5 Millionen Impfdosen an die Länder geliefert. Biontech und Astrazeneca lieferten den Bundesländern bis zum 22. Februar 1,747 Millionen Dosen mehr als bisher geplant. Damit würden auch vorübergehende Engpässe beim Moderna-Impfstoff „mehr als ausgeglichen“, teilte das Ministerium via Twitter mit.
Es reagierte damit direkt auf Kritik von Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), der am Samstag ebenfalls via Twitter moniert hatte, dass angesichts reduzierter Lieferungen von Impfstoffen das Planen von Impfungen schwer möglich sei.
Auch Vertreter von Verbänden fordern vom Impfgipfel mehr Klarheit über Zeitpläne, Prioritäten für Bevölkerungsgruppen und verfügbare Impfstoffe.
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, fand sehr klare Worte. „Die Städte erwarten keine vagen Versprechungen mehr, sondern eindeutige Antworten auf die zwei wesentlichen Fragen: Wann gibt es ausreichend Impfstoff? Wann wird welcher Impfstoff ins Impfzentrum geliefert“, sagte Dedy der Deutschen Presse-Agentur. „Zurzeit können wir dort wegen der geringen Impfstoffmengen nur mit angezogener Handbremse agieren“, beklagte Dedy. Aus seiner Sicht müssten auch die Städte beim Impfgipfel dabei sein. „Wer hat denn die Impfzentren errichtet und hält sie jetzt vor?“, fragte Dedy.
Die Wirtschaft dringt ebenfalls auf mehr Tempo beim Impfen. „Die Anpassung unserer Impfstrategie und die Steigerung der Impfgeschwindigkeit ist ein zentraler Wettbewerbsvorteil. Hier müssen wir besser werden“, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger der dpa. Dulger betonte: „Wir bewältigen diese Krise nur, wenn wir konsequent durchimpfen.“
Altmaier macht Länge des Lockdowns von Mutationen abhängig
Auch mit dem bis 14. Februar befristeten Lockdown mit der Schließung von Kneipen und Restaurants, vieler Geschäfte sowie Schulen und Kitas hoffen Bund und Länder, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Kurzfristiges Ziel der Politik ist es, den Inzidenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen zu erreichen. Am Sonntag lag diese sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz dem Robert Koch-Institut zufolge bei 90,2.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) schließt ungeachtet der positiven Tendenz nicht aus, dass der aktuelle Corona-Lockdown noch einmal verlängert werden muss. „Die aktuelle Entwicklung nährt die Hoffnung, dass wir uns relativ schnell einer Inzidenz von 50 nähern können“, sagte Altmaier der „Welt am Sonntag“. „Die Länge des Lockdowns hängt aber auch davon ab, inwieweit sich neue Mutationen des Coronavirus in Deutschland verbreiten.“ Man habe in Großbritannien gesehen, dass sich die neue Virusvariante auch deshalb schnell habe ausbreiten können, weil der dortige Lockdown weniger streng gewesen sei als der aktuell in Deutschland geltende, warnte Altmaier
Ähnlich hatte sich bereits Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus geäußert: „Besser jetzt noch ein wenig länger etwas härtere Maßnahmen als ein Raus-Rein-Raus-Rein, was letztlich alle zermürbt“, sagte der CDU-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. (mit Agenturen)