„Der zerbrechlichste Nachbar der Ukraine“: Moldau fürchtet die russische Bedrohung aus Transnistrien
Explosionen im abtrünnigen Transnistrien und Andeutungen eines russischen Militärs lassen die Kriegsangst in Moldau wachsen. Die Präsidentin mahnt zur Ruhe.
Eine Reihe von Explosionen in der abtrünnigen, prorussischen Region Transnistrien schürt in der kleinen Republik Moldau die Angst vor einem Überschwappen des Krieges aus der Ukraine.
Als die Behörden in Transnistrien am Montag einen mutmaßlichen Granatwerferangriff auf ein Ministerium in der Regionalhauptstadt Tiraspol meldeten und einen Tag später zwei Explosionen an einem Funkturm in Majak nahe der ukrainischen Grenze, wandte sich Moldaus Präsidentin Maia Sandu an die Bevölkerung. „Wir appellieren an die Bürger, Ruhe zu bewahren und sich sicher zu fühlen“, sagte sie nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats.
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Moldau mit seinen knapp 2,6 Millionen Einwohnern, die überwiegend zweisprachig – Rumänisch und Russisch – sind, liegt an der Grenze zur Ukraine. Der eingefrorene Konflikt mit Transnistrien auf dem schmalen Landstreifen zwischen dem Fluss Dnister und der Grenze zur Ukraine ist einer der ältesten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion.
Die mehrheitlich russische und ukrainische Bevölkerung in Transnistrien spaltete sich 1990 ab, als die Nationalbewegung der Moldau eine Vereinigung mit dem Nachbarn Rumänien anstrebte. Bei einem Krieg 1992 starben etwa 1000 Menschen.
Die Separatistenregion Transnistrien mit ihren rund 500.000 Einwohner ist von der Regierung in Moskau politisch und wirtschaftlich vollständig abhängig, es wird fast nur Russisch gesprochen. Das Gebiet lebt vom Weiterverkauf russischer Energie und vom Schmuggel. Rückhalt der Separatisten in Transnistrien, das etwas größer ist als Luxemburg, ist ein Kontingent russischer Soldaten, das dort stationiert ist.
Es waren aber nicht erst die Explosionen in Transnistrien, die in Moldau Furcht auslösten. Wenige Tage zuvor hatte ein hochrangiger russischer Militär die Moldauer mit seinen Äußerungen zu den militärischen Zielen Russlands in der Ukraine in Sorge versetzt.
Russland strebe an, bis tief in den Süden der Ukraine vorzustoßen, kündigte Kommandeur Rustam Minnekajew an. Die vollständige Kontrolle über die Südukraine würde Russland Zugang zu Transnistrien verschaffen, das würde die gesamte Küstenlinie der Ukraine abschneiden, die russischen Streitkräfte könnten Hunderte von Kilometern weiter nach Westen vordringen.
Noch bedrohlicher aber als die strategischen Erwägungen des Militärs empfanden die Moldauer die Bemerkung Minnekajews, es gebe „Hinweise auf eine Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung“ in Transnistrien – denn genau mit diesem Vorwand begründet der Kreml auch seinen immer nur als „militärische Operation“ bezeichneten Angriff auf die Ukraine.
Die Andeutungen des Militärkommandeurs rief die Regierung der Republik Moldau prompt auf den Plan. Als erste Reaktion bestellte das Außenministerium in Chisinau den russischen Botschafter ein. Man wolle seine „tiefe Besorgnis“ über die Äußerungen von Minnekajew zum Ausdruck zu bringen, teilte das Außenministerium auf seiner Internetseite mit.
Die Aussagen Minnekajews seien unbegründet, erklärte das Außenministerium. „Moldau ist ein neutraler Staat, und dieser Grundsatz muss von allen internationalen Akteuren, einschließlich der Russischen Föderation, respektiert werden.“
„Können nicht absehen, wie sich die Lage entwickelt“
Moldaus Außenminister Nicu Popescu machte in der vergangenen Woche vor Journalisten in Washington deutlich, wie sehr sein Land fürchtet, in den russischen Angriffskrieg hingezogen zu werden. „Wir sind der zerbrechlichste Nachbar der Ukraine, wir sind das Land, das am stärksten betroffen ist und das Land, das die geringsten Ressourcen hat, um den Krieg und seine Folgen zu bewältigen“, zitiert „Foreign Policy“ den Minister.
Niemand wollte Teil eines Kriegsgebiets werden. „Aber wir können nicht absehen, wie sich die Lage entwickelt“, sagte Popescu – das war noch vor den Explosionen, deren Urheber unbekannt sind.
Moskau und Tiraspol beschuldigten die Ukraine, Kiew sieht dagegen Russland am Werk. Der russische Geheimdienst FSB wolle Transnistrien in den russischen Krieg gegen die Ukraine hineinziehen, hieß es.
Die ukrainischen Streitkräfte seien auf einen möglichen Angriff russischer Truppen aus Transnistrien vorbereitet, versicherte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sofort. Man kenne die Stärke dieser Truppen und die ukrainischen Streitkräfte hätten keine Angst vor ihnen.
Die Behörden in Transnistrien sprechen vor allem bei den Explosionen an den Funktürmen, von denen aus russische Programme ausgestrahlt wurden, von einem Terrorakt. „Eine solche Provokation zielt darauf ab, die Lage zu destabilisieren und die Menschen nervös zu machen“, sagte der Abgeordnete Andrej Safono.
Es sei zudem ein Versuch, „die erfolgreiche Friedensmission in Transnistrien zu torpedieren.“ Als „Friedensmission“ versteht er dabei die Kontrolle durch etwa 500 russische Soldaten und weiteres militärisches Personal in Transnistrien, das völkerrechtlich weiter zu Moldau gehört.
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Moldaus Präsidentin Sandu wiederum verurteilte die Anschläge als Versuch, den Frieden in der Region zu stören und erklärte, ihr Land sei bereit zu einer friedlichen Lösung der Konflikte. Sandu sieht „Spannungen zwischen unterschiedlichen Kräften innerhalb der Region, die an einer Destabilisierung der Situation interessiert sind“. Konkreter wurde sie nicht.
Sicher ist, dass für Moldau politisch viel auf dem Spiel steht. Denn die kleine Republik grenzt an das EU- und Nato-Mitglied Rumänien. Und unter Sandus Führung orientiert sich Moldau in Richtung EU. Anfang März hat die Republik ein Eintrittsgesuch an die EU geschickt. „Wir sind daran interessiert, dass an den Ufern des Dnister Frieden und Ruhe herrschen“, sagte die Präsidentin.
Militärexperte sieht keine aktuelle Bedrohung
Ungeachtet der Unruhe in Moldau schätzt ein Militärexperte eine Eskalation des Konflikts aktuell als eher gering ein. Die dort stationierten russischen Truppen seien viel zu schwach, um gegen die Republik Moldau oder die Ukraine vorzurücken, sagte Marcus Keupp von der Militärakademie an der ETH Zürich.
Die Besatzungstruppen bewachten ein riesiges Waffen- und Munitionsdepot aus Sowjetzeiten an der Grenze zur Ukraine. „Dort stehen Panzer und Radfahrzeuge, die seit 30 Jahren nicht mehr bewegt wurden“, sagte Keupp der Deutschen Presse-Agentur.
Die rund 5000 pro-russischen Soldaten der Streitkräfte des transnistrischen Separatistengebiets seien logistisch isoliert und verfügten wohl nur über zwei Kampfhubschrauber, sagte Keupp. Ihnen gegenüber stünden in Moldau rund 20.000 Soldaten. Hinzu komme, dass rund ein Drittel der Bewohner Transnistriens ukrainische Wurzeln habe und ein Teil von ihnen zum Partisanenkampf übergehen würde.
Keupp sieht die aktuell undurchsichtige Entwicklung eher als den Versuch eines Ablenkungsmanövers: Russland würde versuchen, ukrainische Truppen aus dem Raum Odessa zu binden und so die Verteidigung der wichtigen Hafenstadt zu schwächen – ganz im Sinne von Moskaus Strategie, den Osten der Ukraine vollständig unter russische Kontrolle zu bringen. (mit Agenturen)