Umfragen und Alltagsverhalten klaffen auseinander: Mit Klima allein ist das Kanzleramt nicht zu erobern
Mit der Angst vor dem Untergang hat die Bewegung die Aufgabe ins Bewusstsein gerückt. Nun muss sie den Weg von der Emotion zur Inklusion finden. Ein Kommentar.
Die Meinungsumfragen sind eindeutig. Der Praxistest ist es allerdings auch. Seit Jahren behaupten die Deutschen, Klimaschutz sei ihnen herausragend wichtig. In Umfragen zählen zwei Drittel ihn zu den drängendsten Aufgaben.
Viele sagen gar, er habe höchste Priorität, selbst in Coronazeiten. Doch als vergangene Woche das Bundesverfassungsgericht ein bahnbrechendes Urteil zur Klimapolitik sprach, blieb der Ansturm der Leserinnen und Leser auf Hintergrundberichte und Kommentare aus.
Ähnlich erging es der „Breaking News“, dass US-Präsident Joe Biden die Selbstverpflichtung der USA zum Abbau der Emissionen bei seinem Klimagipfel mit 40 Staats- und Regierungschefs verdoppelt hat. Zwei historische Wendepunkte, die nicht die Resonanz fanden, die angesichts der Umfragen nahegelegen hätte.
Die Klimaziele sind abstrakt, die Ideen oft realitätsfern
Meinungsforscher und Medienmacher nennen verschiedene Gründe für die Diskrepanz zwischen dem behaupteten und dem messbaren Interesse an Klimapolitik. Gemeinsam ist ihren Erklärungen: Es bleibt zu vieles unverbunden zwischen der öffentlichen Erzählung von der Jahrhundertaufgabe und dem persönlichen Erleben im Alltag.
Viele Menschen sehen irritierende Lücken und Brüche zwischen dem Bild der drohenden Katastrophe und den Details der Rettungsvorschläge. Je nach Wohnort, Bildung und Beruf sind sie sehr unterschiedlich betroffen.
Mit emotionaler Vehemenz haben Klimagruppen und ihre Sympathisanten in den Medien die Angst vor dem Untergang ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Dann aber wird es abstrakt. Oder realitätsfern. Wer kann schon 55 Prozent CO-2-Reduzierung bis 2030 in greifbare Konsequenzen für das eigene Leben übersetzen?
Die Menschen auf dem Land fühlen sich ignoriert
Menschen am Berliner Stadtrand und im ländlichen Brandenburg fühlen sich ignoriert und ärgern sich, wenn Innenstadtbewohner ihnen vorschlagen, sich auf ein Leben ohne Auto vorzubereiten. Ähnliches berichtet Thomas Fricker, der Chefredakteur der „Badischen Zeitung“, über grüne Universitätsstädte und das Umland. So hebt beispielsweise Freiburgs Stadtrat die Anwohnerparkgebühr von jährlich 30 Euro auf im Schnitt 360 Euro an, im Einzelfall kann sie auf mehr 900 Euro steigen. Kurz zuvor ergab eine Allensbach-Umfrage im Auftrag mehrerer Zeitungen in Baden-Württemberg, dass drei Viertel der Bürger ihr Auto täglich oder mehrmals wöchentlich nutzen; zwei Drittel von ihnen betrachten es als unverzichtbar.
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Um das politische Potenzial zu entfalten, das die Umfragen über die hohe Priorität für Klimafragen nahelegen, müsste die praktische Klimapolitik weniger spaltend wirken und inklusivere Lösungen anbieten. „Fridays for Future“ findet Zulauf bei den Gymnasiast:innen aus den höhergebildeten und besserverdienenden Bürgerfamilien der Großstädte, weniger bei Berufsschülern in Kleinstädten und auf dem Land. Nur etwa die Hälfte der Deutschen wohnt in Großstädten, die andere Hälfte aber nicht.
Nur einmal hat ein Umweltthema eine Wahl entschieden
Eine Wahl hat die Umwelt- und Klimapolitik bisher nur im Ausnahmefall entschieden: Wenn sie kurz auf ein hoch emotionales Ereignis folgte wie die Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2011 nach dem Reaktorunfall in Fukushima, sagt der langjährige Leiter von Infratest dimap, Richard Hilmer.
Langfristig aber haben Themen, die unmittelbar den Alltag beeinflussen wie Wirtschaft, Arbeit und Arbeitslosigkeit, Migration und Corona mehr Einfluss auf die Wahlentscheidung. Mit Klima allein ist das Kanzleramt nicht zu erobern. Es sei denn, 2021 wird alles anders.