Bundesärztekammer-Präsident Montgomery: "Mit einer Bürgerversicherung hätten wir wirklich eine Zwei-Klassen-Medizin"
Der Ärztepräsident ist gegen die Bürgerversicherung und für eine neue große Koalition: "Wenn uns Gröhe als Minister erhalten bliebe, wären wir zufrieden", sagt Frank Ulrich Montgomery.
Herr Montgomery, welche Chancen böte aus Ärztesicht eine neuerliche große Koalition?
Die Ärzteschaft hat mit der vergangenen großen Koalition gute Erfahrungen gemacht. Gesundheitspolitik war bei Hermann Gröhe in hervorragenden Händen. Wir haben eine Fülle neuer Gesetze bekommen. Und wir konnten unsere ärztliche Expertise intensiv einbringen – in vielen persönlichen Gesprächen und in mehr als 100 schriftlichen Stellungnahmen zu verschiedensten Gesetzesinitiativen. Durch hervorragende Wirtschaftsdaten bekamen wir zudem ein Substrat geliefert, um im Gesundheitswesen gut wirtschaften zu können. Wir könnten uns das gut nochmal vorstellen. Und wenn uns Gröhe als Minister erhalten bliebe, wären wir besonders zufrieden.
Die Alternative wäre eine Minderheitsregierung...
Davon halte ich überhaupt nichts. Wir brauchen in den schwierigen Zeiten, die auf uns zukommen, eine stark auftretende Regierung. Die kann sich nicht solche Geschäftsordnungsdebatten leisten, wie wir sie jetzt bei Glyphosat erlebt haben.
Sie warnen eindringlich vor einer Bürgerversicherung. Machen Sie sich zum Sprachrohr privater Versicherungskonzerne?
Nein, ich mache mich zum Sprachrohr der Patienten. Die Tatsache, dass es private Krankenversicherungen mit Bestandsinteressen gibt, kann nicht dazu führen, dass wir einen Maulkorb bekommen und uns nicht mehr gegen die Bürgerversicherung aussprechen dürfen. Das Ziel, die private Krankenversicherung, wie wir sie heute kennen, abzuschaffen, geht aus unserer Sicht nach hinten los. Wir glauben, dass aus dem Wettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Kassen sehr viel positiver Innovationsdruck entsteht. Und in einem Land, in dem man zusätzliche Leistungen ja nicht verbieten kann, würde es bei einer Bürgerversicherung sofort einen zusätzlichen, teuer bezahlten Gesundheitsmarkt geben. Dann hätten wir wirklich die Zwei-Klassen-Medizin, von der Herr Lauterbach behauptet, dass wir sie heute schon hätten.
Sie bestreiten, dass in unserem System Privatpatienten bevorzugt behandelt werden?
Die medizinische Behandlung ist gleich. Die Wartezeiten können unterschiedlich sein. Wer Zwei-Klassen-Medizin besichtigen will, sollte sich die Einheitssysteme in anderen Ländern ansehen.
Geht es den Ärzten bei ihren Warnungen nicht vor allem um die Angst vor wegbrechenden Privathonoraren?
Es ist nichts Unanständiges, mit der Behandlung seiner Patienten Geld zu verdienen. Ärzte müssen auch ein ihrer Ausbildung und Tätigkeit entsprechendes Einkommen erzielen. Im übrigen sind die zusätzlichen Einnahmen gar nicht so gewaltig. Entscheidend ist der Qualitätsverlust, den wir bei einer Bürgerversicherung in der Patientenversorgung hätten.
Planen Sie denn Kampagnen, beispielsweise Plakate in den Wartezimmern?
Ich bin dagegen, Patienten für politische Ziele zu instrumentalisieren. Wer ins Wartezimmer kommt, hat andere Anliegen. Aber selbstverständlich sind wir für den Ernstfall vorbereitet. Wenn wirklich eine Bürgerversicherung umgesetzt werden soll, würden wir uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren.
In Hamburg plant der Senat, sich bei Beamten künftig auch an einer gesetzlichen Versicherung zu beteiligen. Eine gute Idee?
Das freundliche Angebot für die Beamten scheint mir vordergründig zu sein. In Wirklichkeit geht es darum, Risiken der Beihilfe in die gesetzliche Krankenversicherung abzuschieben. Hamburg entlastet sich zu Lasten der gesetzlichen Kassen. Ansonsten bin ich sehr für Wahlfreiheit. Aber nicht nur für Beamte, sondern für alle. Lassen Sie uns doch die Versicherungspflichtgrenze aufheben und allen auch die Möglichkeit geben, sich privat zu versichern. Dann hätten wir wirklichen Wettbewerb. Also: Keine Bürgerversicherung, sondern genau das Gegenteil.
Und alle würden sich die Rosinen aus dem jeweiligen System picken...
Rosinenpickerei und das Abschieben besonders schwerer Risiken an die andern, lehnen wir ab. Und es gibt Instrumente, das zu verhindern.
Was erhoffen Sie sich denn ansonsten von einer neuen Regierung, außer dass sie Ihnen das duale System belässt?
Es gibt eine Fülle von Problemen, die gelöst werden müssen: Digitalisierung, Klinikfinanzierung, Überwindung von Sektorengrenzen. Dabei mitzuhelfen, stehen wir bereit. Zum Beispiel brauchen wir endlich eine vernünftige Regelung der Notfallversorgung. Das Schwarze-Peter-Spiel zwischen Kliniken und Kassenärztlichen Vereinigungen muss aufhören.
Vor allem in großen Städten sind die Notaufnahmen der Krankenhäuser am Anschlag. Woran liegt das?
Da kommt mehreres zusammen. Viele Patienten haben keinen Hausarzt und wissen nicht, wohin sie sich im Bedarfsfall wenden sollen. Flüchtlinge und Migranten sind es von ihren Heimatländern her gewohnt, sich nicht in eine Arztpraxis, sondern gleich ins Krankenhaus zu begeben. Und dann gibt es zunehmend eine One-Stop-Shop-Philosophie. Wer eine Krankheit zu haben glaubt, für die er das Zusammenwirken mehrerer Ärzte für nötig hält, geht lieber ins Klinikum. Dort muss er zwar länger warten, erhält aber eine Allround-Versorgung und wird nicht weitergeschickt. Das wollen viele Leute.
Wie ist darauf zu reagieren?
Die Antwort kann nur sein, dass Kliniken und Praxisärzte zusammen ein Konzept anbieten. Es muss Anlaufstellen geben, die entscheiden, wer ins Krankenhaus muss und wer nicht. Das muss gemeinsam geregelt und sauber durchfinanziert werden. Und wir müssen besser aufklären. Niedergelassene Ärzte haben auch Notfallpraxen und mit 116117 eine eigene Notrufnummer. Der Arzt, der sich freitags um 13 Uhr zum Golfplatz verabschiedet, ist ein Klischee. Es gibt überall Hilfe. Man muss nur wissen, wo.
Für die Krankenhäuser wird es immer schwerer, Pflegekräfte zu finden. Und die vorhandenen hetzen von Patient zu Patient. Beunruhigt Sie diese Entwicklung?
Das beunruhigt mich sehr. Was die Pflegekräfte pro Patient betrifft, haben wir sowieso schon den schlechtesten Schlüssel aller Industriestaaten. In Amerika, aber auch in Holland und Skandinavien, sind doppelt bis drei-, viermal so viele am Bett. Und wir haben inzwischen auch einen echten Fachkräftemangel.
Was sind die Gründe dafür?
Das fängt bei der Ausbildung an, die bei uns zum Teil noch kostenpflichtig ist. Und es endet bei den Arbeitsbedingungen. Man muss die so gestalten, dass Pflegekräfte auch länger in ihrem Beruf bleiben. Aus meiner Sicht ist das oft wichtiger als die Bezahlung. Wenn man eine Krankenschwester allein nachts die Betreuung von 30 frisch Operierten überlässt, braucht man sich nicht wundern, wenn die irgendwann den Bettel hinschmeißt.
Was könnte helfen? Ein Einwanderungsgesetz? Verbindliche Pflegeschlüssel?
Verbindliche Pflegeschlüssel wären sinnvoll. Aber was nutzen die, wenn wir das Personal dafür nicht finden. Wir haben ja jetzt schon das Problem, freie Stellen nicht besetzen zu können. Und bei den Pflegekräften erleben wir ja bereits eine regelrechte Völkerwanderung – aus den armen Ländern in Industriestaaten, wo man besser verdienen und sicherer leben kann. Natürlich sollten wir uns bemühen, unter den Migranten diejenigen mit entsprechender Eignung und Vorbildung herauszupicken. Aber wir können diesen Ländern nicht immer mehr qualifizierte Kräfte entziehen. Das tut den Sozialsystemen dort überhaupt nicht gut.
Rainer Woratschka