„Handwerklich schlecht, inhaltlich ein Desaster“: Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz ist nur die FDP zufrieden
Opposition, Ministerpräsidenten und Virologen üben vernichtende Kritik an den Corona-Lockerungsplänen der Ampel. Doch für Änderungen läuft die Zeit ab.
Das Timing der Ampel wirkt denkbar schlecht. Mehr als 260.000 neue Coronafälle innerhalb eines Tages meldet das RKI am Mittwochmorgen. Die Inzidenz klettert auf mehr als 1600, ein europäischer Rekord. Zudem 269 weitere Corona-Tote in nur 24 Stunden.
Und doch sollen im neuen Infektionsschutzgesetz, über das der Bundestag am Mittwoch erstmals beraten hat, weitreichende Schutzmaßnahmen wie die Maskenpflicht in Supermärkten, Gastronomie und Handel fallen. Auch 2G-Beschränkungen sollen nur noch die Ausnahme sein.
Die anhaltende Wucht der Omikron-Welle macht sich auch im Bundestag bemerkbar. Bundestagpräsidentin Bärbel Bas (SPD) hat sich mit Corona infiziert, sie fehlt ebenso, wie ihre Stellvertreter Wolfgang Kubicki (FDP), Aydan Özoguz (SPD) und Yvonne Magwas (CDU).
„Sie müssen in dieser Woche mit der Kollegin Petra Pau und mir Vorlieb nehmen“, sagt Vize-Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckart zu Beginn der Sitzung. Die Grünen-Politikerin appellierte an die Abgeordneten, von denen auch viele wegen Corona fehlen, sie mögen sich Zwischenrufe überlegen, um eine straffe Sitzung zu gewährleisten. Ein Appell, der schnell verhallt.
Es ist eine hitzige Debatte, in der es immer wieder zu Zwischenrufen kommt. Vor allem von der AfD, deren ungeimpfte Abgeordnete erstmals nicht mehr auf der sogenannten „Seuchentribüne“ Platz nehmen müssen, gibt es laute Zwischenrufe.
Schon nach wenigen Minuten lässt die Union die Sitzung unterbrechen und will Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ins Plenum zitieren lassen. Doch eine Mehrheit fehlt. Der Minister, der wegen des Gesetzentwurfs, den er mit Justizminister Marco Buschmann (FDP) verhandelt hat, in der Kritik steht, erscheint mit 15 Minuten Verspätung.
Welche Kritik gibt es am Gesetz?
Zu diesem Zeitpunkt nimmt die Union schon das Gesetz der Ampel auseinander. „Dieser Entwurf lässt einen einigermaßen fassungslos zurück“, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Hendrik Hoppenstedt. Dass nur noch in Krankenhäusern, Arztpraxen und Bus, Bahn und Flugzeugen eine Maskenpflicht und Testregime möglich sein sollen, hält er für unverantwortlich.
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Auch die Hotspot-Regelung, wonach die Länderparlamente bei steigenden Fallzahlen und hohen Hospitalisierungsraten Bundesland, Städte oder Gemeinden zum Hotspot erklären und dadurch strengere Regeln einführen könnten, sei „kein Heilsbringer“. „Wie soll ein Landtag jede einzelne Gemeinde und jedes einzelne Krankenhaus vor Ort im Blick haben“, sagt Hoppenstedt.
Manche Länderparlamente, wie in Berlin, tagen nur alle zwei Wochen. In anderen Ländern, wie in Nordrhein-Westfalen, gibt es mehr als 50 eigenständige Gebietskörperschaften. „Handwerklich schlecht, inhaltlich ein Desaster“, urteilt Vize-Linken-Chef Ates Gürpinar.
Auch aus der Koalition ist am Mittwoch deutliche Skepsis zum eigenen Gesetzesentwurf zu hören. „Das ist nicht die schönste Stunde der Demokratie, aber das ist Demokratie“, sagt die Brandenburger SPD-Abgeordnete Sonja Eichwede.
Man müsse zwischen dem Schutz und den Folgen der Freiheitseinschränkungen abwägen, sagt die Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink. Mit dem Kompromiss sei ihre Partei nicht zufrieden und es könne sein, dass man nochmal nachbessern müsste, sagte sie explizit in Richtung FDP.
Für die Liberalen hält die gesundheitspolitische Sprecherin Christine Aschenberg-Dugnus ein leidenschaftliches Plädoyer für den Entwurf: „Wir sind nicht in der selben Lage wie vor zwei Jahren“, sagt sie und zählt Impfstoffe, Medikamente und Wissen über das Virus auf. Man müsse lernen, mit dem verdammten Virus zu leben und auf Eigenverantwortung setzen.
„Wir wollen die Maske nicht verbieten“, sagte Aschenberg-Dugnus, in vollen Supermärkten sei es sinnvoll eine zu tragen. Am Ende erhält sie keinen Applaus von SPD und Grünen. Am Freitag soll das Gesetz endgültig verabschiedet werden.
Welche Gefahren sehen Virologen?
„Den aktuellen Kurs der Regierung halte ich für falsch“, sagt der Frankfurter Virologe Martin Stürmer dem Tagesspiegel. „Sie lässt das aktuelle Infektionsgeschehen völlig außer Acht, ist viel zu sehr an Lockerungen interessiert.“
Die Infektionsdichte in Risikogruppen lege wieder zu, gleichzeitig stagniere die Impfquote bei unter 80 Prozent. „Den Ländern werden viele Maßnahmen gestrichen. Wenn das nicht nach hinten losgeht, dann haben wir einfach nur Glück.“
Für Stürmer kommen die Lockerungen zu früh: „Die Rechtsgrundlage für den Corona-Maßnahmenkatalog hätte einfach verlängert werden können für drei Monate, dann wären wir in der warmen Jahreszeit gewesen, die Zahlen runtergegangen.“
Ähnlicher Ansicht ist auch die Virologin Melanie Brinkmann. Mit der breiten Anwendung wirksamer Impfstoffe, die zum Glück auch bei Infektionen mit der Omikron-Variante vor schweren Erkrankungen schützten, habe Deutschland zwar ein sehr gutes Mittel in der Hand, zu einem hohen Grad zur Normalität zurückzukehren. Jedoch seien nur Geimpfte wirkungsvoll geschützt, Ungeimpfte hingegen nicht. Insbesondere der nach wie vor hohe Anteil Ungeimpfter führe dazu, dass zum jetzigen Zeitpunkt viele Menschen schwer erkrankten und viele auch stürben. Zu den Menschen mit hohem Risiko gehören Ungeimpfte, Menschen, die keinen ausreichenden Immunschutz aufbauen können, wie es relativ häufig bei Älteren der Fall ist.
Hospitalisierungszahlen könnten wieder steigen
„Wenn nun weitere Schutzmaßnahmen wegfallen, werden die Hospitalisierungszahlen sehr wahrscheinlich wieder weiter steigen. Ich sehe hier die Gefahr, dass es regional erneut zu Engpässen in der Krankenversorgung kommen kann“, sagte Brinkmann dem Tagesspiegel. Aus diesen Gründen halte sie es für sinnvoll, dass Maßnahmen wie Risiko-basiertes Testen und insbesondere das Tragen von Masken in Innenräumen noch aufrecht zu erhalten.
„Masken reduzieren die Menge an Virus, das ausgeschieden wird - und in schlecht belüfteten Innenräumen auch eine Zeit lang in der Luft verbleibt - und infektiös ist. Und Masken reduzieren beim Empfänger die Menge an Virus, die eingeatmet wird. Am wirksamsten sind die Masken erwiesenermaßen, wenn beide, Sender und Empfänger, sie tragen.“ Deshalb sei es klug und sinnvoll, sie in Innenräumen beizubehalten – zumindest so lange, bis die Lage sich wirklich nachhaltig entspannt habe.
„Auch wenn dies keine populäre Nachricht ist: die Pandemie ist noch nicht vorbei und wir müssen einen guten Weg finden, wie wir mit diesem Virus die nächsten Jahre umgehen wollen.“
Besonders besorgniserregend findet der Virologe, dass es noch keine Forschung dazu gibt, wie sich Omikron zu Long Covid verhält. „Momentan infizieren sich täglich etwa 260.000 Menschen, wir wissen, dass 10 bis 15 Prozent der Coronainfizierten selbst bei milden Verläufen später Long Covid entwickeln. Das könnte 30.000 Long-Covid-Fälle pro Tag bedeuten. Das ist mir zu viel.“
Wie reagieren die Länder?
Ehe das Infektionsschutzgesetz am Freitag verabschiedet wird, kommt am Donnerstag eine Bund-Länder-Runde zusammen. Weil sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst auf einer Reise in Israel mit dem Coronavirus infiziert hat, wird er die MPK aus dem King-David-Hotel in Jerusalem leiten - ein einmaliger Vorgang.
Inhaltlich ist Ärger absehbar. „So können wir doch keine vernünftige Pandemiebekämpfung machen“, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vorab im bayerischen Landtag.
Selbst Sozialdemokraten wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil äußerten wiederholt Kritik am Corona-Lockerungsplan. „Die Pandemie ist nachweislich nicht vorbei und sie wird auch Anfang April nicht vorbei sein. Deshalb brauchen wir auch nach der Übergangszeit noch den bisherigen Instrumentenkasten“, teilte Weil am Mittwoch mit. Die geplante Hotspot-Regelung reiche angesichts steigender Infektions- und Patientenzahlen nicht aus.
Wie konnte sich die FDP durchsetzen?
SPD und Grünen haben sich verzockt. Die FDP hatte bereits im Herbst durchgesetzt, dass das Parlament und nicht mehr die Bundesregierung mit den Länderchefs den Corona-Kurs bestimmt. Somit ist die Koalition nun auf den kleinsten Partner angewiesen - und der diktiert die Bedingungen.
Hätten SPD und Grüne dem Kompromiss nicht zugestimmt, wären alle Corona-Regeln am 20. März gefallen. „Wir haben unterschätzt, wie hart ideologisch die FDP die Corona-Politik verhandelt“, sagt eine Grünen-Abgeordnete.
Hinzu kommt die schlechte Verhandlungstaktik von Gesundheitsminister Lauterbach. In den Gesprächen mit Justizminister Buschmann wollte er den Genesenenstatus bei 90 Tagen beibehalten und nicht auf sechs Monate verlängern.
Im Gegenzug musste Lauterbach weitreichende Zugeständnisse beim Wegfall der Maskenpflicht mittragen. Gegen seine Überzeugungen, wie seine täglichen Warnungen auf Twitter bekunden. Doch Lauterbach hat die Kontrolle verloren.
Was bedeutet das für die Impfpflicht?
An diesem Donnerstag wird sich der Bundestag zum ersten Mal mit den Gesetzesentwürfen zur beziehungsweise gegen eine Impfpflicht beschäftigen. Mitten hinein in die Lockerungsdebatte sei das kommunikativ schwer zu vermitteln, klagen Unterstützer einer Impfpflicht, die dafür sorgen soll, dass Deutschland besser durch den nächsten Winter kommt.
Vier Gruppenanträge liegen auf dem Tisch, wobei die meisten Unterstützer bislang der Antrag zur Impfpflicht ab 18 Jahren hat. Mehr als 200 Abgeordnete vor allem von Grünen und SPD unterstützen den Antrag, doch für eine parlamentarische Mehrheit reicht das nicht.
„Ich will nicht ausschließen, dass wir im parlamentarischen Prozess noch zu einem anderen Kompromiss kommen“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic.
Offenbar sind die Verfasser des Antrags bereit, auch über ein Impfregister zu verhandeln, das vor allem der Union wichtig ist. Es wird wohl sehr auf das Verfahren in der zweiten und dritten Lesung in der ersten Aprilwoche ankommen.
Üblicherweise werden zuerst die weitreichendsten Gesetzesanträge verhandelt, das wäre dann der Antrag für eine Impfpflicht ab 18 Jahren. Findet dieser keine Mehrheit könnten seine Unterstützer den Antrag für eine Impfpflicht ab 50 Jahren unterstützen, der auch von großen Teilen der FDP getragen wird. Abschreiben will Mihalic die Impfpflicht ab 18 Jahren aber noch nicht: „Totgesagte leben länger.“