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Update

Streit um den Kommissionsposten: Merkels Kampfansage an das EU-Parlament

Beim EU-Gipfel in Brüssel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, dass der EU-Vertrag eingehalten werden müsse. Was sich so harmlos anhört, ist in Wahrheit eine Kampfansage an das EU-Parlament im Tauziehen um den konservativen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker.

Dass im vereinten Europa die Dinge manchmal länger dauern, ist ein gewohnter Anblick. Aber diesmal geht der Streit über die künftige Besetzung der Spitzenposten in Brüssel weit über das übliche Gerangel zwischen 28 Mitgliedstaaten hinaus. Wer nächster Chef der EU-Kommission wird, entwickelt sich zur Machtprobe zwischen den Regierungen und dem Parlament. Angela Merkel steht dabei im Feuer zwischen allen Fronten. Dass das US-Magazin „Forbes“ die deutsche Kanzlerin gerade in diesem Moment erneut zur mächtigsten Frau der Welt ausruft, könnte fast als Ironie durchgehen.

Wieso kam es zu dem Streit um den künftigen Kommissionspräsidenten?
Am Anfang der Probleme steht der Vertrag von Lissabon. Bis 2009 war die Auswahl des neuen Kommissionschefs ganz den Staats- und Regierungschefs überlassen, die sich mit Mehrheit auf einen Kandidaten einigen mussten. Der neue Vertrag fügte eine kleine Einschränkung der Wahlfreiheit hinzu: Der Rat der Chefs, hieß es da, „berücksichtigt“ das Ergebnis der Europawahl.
Was das heißt, weiß niemand. Aber die großen Fraktionen im Europaparlament erkannten sofort eine Chance: Sie deuteten die unscharfe Formel kurzerhand als Ermächtigung zu einer Art Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) kürten jeweils Jean-Claude Juncker und Martin Schulz zu ihren europaweiten „Spitzenkandidaten“ mit dem Anspruch, dass der Sieger automatisch das Brüsseler Amt bekommt. Am Dienstag übernahmen alle vier größeren Fraktionen des Parlaments diese Lesart und legten dem Rat der Staats- und Regierungschefs nahe, dass sich der Luxemburger Juncker eine Mehrheit suchen solle.

Wird die vertraglich festgelegte Regelung missachtet?

Für die Staats- und Regierungschefs kam dieser Vorgang dem Versuch gleich, den Lissabon-Vertrag auf den Kopf zu stellen: Wo blieb denn da ihr Vorschlagsrecht? Merkel warnte in Brüssel denn auch davor, den Vertrag zu missachten: Das „Nicht-Einhalten von Verträgen hat uns an den Rand der Katastrophe getrieben“ – eine Anspielung auf die Verstöße gegen die Stabilitätsauflagen des Maastricht-Vertrag, die zur Euro-Krise mindestens beigetragen haben. „Hier wird gerade europäische Verfassungsgeschichte geschrieben“, kommentiert ein deutscher Europa-Kenner – der Streit gehe über die üblichen Machtproben weit hinaus, weil er die Institutionen in Frage stelle, von der Machtverteilung zwischen Parlament und Rat bis hin zur Bedeutung der Europawahl.

Wählerwille und Regierungswille

Was den zweiten Punkt angeht, ist er vom Parlament sogar gewollt. Die Abgeordneten wollen das Prinzip durchsetzen, dass nur einer der Spitzenkandidaten Kommissionschef werden soll. Denn sonst, so das vor allem von der SPD und ihrem Spitzenmann Schulz seit langem vorgebrachte Argument, würden sich Millionen Wähler verschaukelt fühlen und bei der nächsten Europawahl zu Hause bleiben. Allerdings hat das Duell der Spitzenkandidaten Juncker und Schulz in vielen EU-Ländern gar keine Rolle gespielt – etwa in Großbritannien.

Wie sind die Kräfteverhältnisse im Rat der Staats- und Regierungschefs?

Sie sind, wie so oft zu Beginn solcher Verhandlungen, noch unklar. Eindeutig Position bezogen hat der britische Regierungschef David Cameron. Der Brite, vom Erfolg der Anti-Europa-Partei Ukip zusätzlich unter Druck gesetzt, will sowohl Juncker als auch Schulz als EU-Kommissionschef verhindern. Dieses Ziel hätte er definitiv erreicht, wenn es ihm gelingen würde, eine Sperrminorität im Rat zu organisieren. Beim Gipfel in Brüssel sprangen ihm der ungarische Regierungschef Viktor Orban, sein schwedischer Amtskollege Fredrik Reinfeldt und der finnische Premier Jyrki Katainen offen bei – das langt für eine Blockade bei Weitem nicht. Aber es ist ohnehin fraglich, ob es zu einer Kampfabstimmung jemals käme: „Derartig hochpolitische Fragen werden im Rat in der Regel im Konsens entschieden“, hieß es am Donnerstag in EU-Kreisen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel.
Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel.
© AFP

Welche Rolle spielt Merkel bei alledem?

Für Angela Merkel ist Brüssel im Moment so etwas wie eine große Zwickmühle. Sie ist einerseits Kanzlerin, andererseits Parteivorsitzende – welcher der beiden Rollen sie auch immer folgt, bringt sie sofort in Konflikt mit der anderen. Als CDU-Chefin müsste sie mit voller Kraft für den Parteifamilienfreund Juncker kämpfen. Merkel hat die Spitzenkandidatur des Luxemburgers in der EVP schließlich nicht verhindert und während des Wahlkampfs – wenn auch wenig enthusiastisch – seinen Anspruch auf die Kommissionsspitze grundsätzlich unterstützt. Dass sie das jetzt nur noch sehr verhalten tut, wirkt unweigerlich so, als lasse sie den Luxemburger fallen.

Als deutsche Kanzlerin und Mitglied im Rat der 28 bleibt Merkel aber andererseits gar nichts anderes übrig, als die Herausforderung des Parlaments abzuwehren. Außerdem dürften in ihrem Kalkül Fragen mitspielen, die über einen – wenngleich wichtigen – Posten hinausweisen. Merkel hat sich auch in den härtesten Konflikten stets gescheut, die Briten derart vor den Kopf zu stoßen, dass dort die Lust auf einen EU-Austritt weiter wächst. Im ersten Anlauf hat Merkel jedenfalls ihre Kanzlerinnen-Rolle über die der Parteichefin gestellt. Sie pocht auf das Vorschlagsrecht der Staats- und Regierungschefs und betont, dass der Rat der 28 ja auch in zukünftigen Krisen weiter gut zusammenarbeiten müsse. Gleichzeitig wies sie das EU-Parlament in seine Verfassungsschranken: Die EVP-Fraktion habe nach dem EU-Vertrag nicht den Auftrag zur Regierungsbildung.

Wie könnte der Konflikt gelöst werden?
Allen ist letztlich klar: Im Streit geht es nicht. Dass die Staats- und Regierungschefs einen Kandidaten nach dem anderen benennen und das Parlament sie allesamt ablehnt, käme einer Verfassungskrise gleich. Der scheidende Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy soll als Vermittler bis zum nächsten Gipfel Ende Juni Lösungen sondieren. Eine Variante, die in EU-Kreisen diskutiert wird, könnte dem Vorbild der großen Koalition in Berlin folgen: Juncker als Kommissionschef und Schulz als eine Art „Vizekanzler“ – also mit einem wichtigen Themengebiet in der Kommission. Schulz müsse in jedem Fall der Kommission angehören, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel betont.

Gegen diese Variante spricht allerdings, dass sie für einen wie Cameron wohl die schlechteste aller denkbaren Lösungen wäre – statt beide zu verhindern, säßen beide Kandidaten an Schaltstellen der Europapolitik. Ob dem Briten als Ausgleich ein machtvoller Kommissar aus dem Königreich genügen würde – etwa der Zuständige für Handelsfragen –, ist eine dieser Fragen, die Van Rompuy in den nächsten Tagen beschäftigen werden. Auch in Deutschland leuchtet der Charme des Brüsseler Groko-Modells nicht ein. Unionsfraktionschef Volker Kauder besteht auf einem Kommissar aus den eigenen Reihen – schon mit Blick darauf, wer die Europawahl gewonnen hat.

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