Bundestagswahlkampf: Merkel rückt vom Nein der Union zur "Ehe für alle" ab
Bundeskanzlerin Merkel bringt eine "Gewissensentscheidung" der Unions-Abgeordneten ins Spiel - und lässt damit die Luft aus dem größten Streitpunkt des Wahlkampfs.
Erst der junge Mann im Publikum bringt sie aus dem Takt. Angela Merkel sitzt am Montagabend im Gorki-Theater zwischen zwei „Brigitte“-Redakteurinnen. Die Frauenzeitschrift lädt im Wahlkampf die Parteispitzen auf die Bühne zum lockeren Frage- und Antwort-Spiel, zum Schluss dürfen auch Gäste fragen. Dem jungen Mann ist aber nicht locker zumute, sondern ernst. Alle Parteien wollten die Ehe für alle, nur die Union nicht: „Wann darf ich meinen Freund Ehemann nennen?“
Die CDU-Chefin hat bis dahin alle Fragen glatt pariert, selbst die nach der Willkommenskultur und „Wir schaffen das“. Sie hat auch gesagt, dass sie mit der Zeit direkter geworden sei, weil die Leute im Westen anders als die DDR-Menschen mit dezenten Hinweisen nichts anfangen könnten: „Bei uns reichte schon so ’ne ganz kleine Andeutung, dann war man schon auf der Klassenfeindseite.“ Aber dies hier ist zu heikel für Direktheit.
Einerseits, sagt also Merkel, würden in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft die gleichen Werte gelebt wie in einer Ehe. Aber mancher tue sich schwer mit der Gleichstellung, sie auch. Sie finde es falsch, das Thema in Parteibeschlüssen durchzupauken. „Ich möchte mit der Union anders darauf reagieren.“ Nämlich „eher in Richtung einer Gewissensentscheidung“. Ob der junge Mann weiß, dass er gerade erlebt, wie die Kanzlerin aus dem größten Streitpunkt des Wahlkampfs die Luft rauslässt? Wie anders soll ihre Andeutung zu lesen sein als: Wenn wir mit Anstand in einer Bundestagsabstimmung unterliegen dürfen, soll an der „Ehe für alle“ mit der Union keine Koalition scheitern.
Es sollte in der Plauderstünde eigentlich eher um Merkels Perfektionismus gehen
So politisch war sie gar nicht gemeint, die Plauderstunde. Es sollte da eher um Merkels Verhältnis zum Perfektionismus gehen – „Meinen Sie jetzt beim Wäsche aufhängen?“ fragt die Kanzlerin zurück. Über ihre Unfähigkeit zum Pokerface – „Ich hab’ das aufgegeben. Ich kann’s nicht.“ Oder über fremde Hotelzimmer – was das angeht, lernt das Publikum, dass Merkel erst guckt, ob das Fenster aufgeht, und wenn nicht, ob sie die Klimaanlage bedienen kann.
Welcher Monat ihr lieber sei, will eine der „Brigitte“-Redakteurin wissen – September vor der Wahl oder Oktober danach. „29. September“, sagt Merkel. „Digitalkonferenz in Estland.“ Kurze Pause. „Hab’ ich zugesagt.“ Der Saal feixt, aber Merkel sagt, dass sie da hin kann, egal wie die Wahl ausgeht: „29. September biste auf der sicheren Seite.“
Ach ja, Wahl: Was sie denn zum Vorwurf des SPD-Kanzlerkandidaten sage, ihr Wahlkampfstil sei ein „Anschlag auf die Demokratie“? Merkel zuckt die Schultern. „Eigentlich hab’ ich Martin Schulz immer anders erlebt.“ Aber der Wahlkampf sei vielleicht etwas anstrengend. „Schwamm drüber.“
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