Asylpolitik: Menschlichkeit ist nicht naiv, sondern notwendig
Der Diskurs über Migration in Deutschland hat sich verschoben. Natürlich muss man über Probleme sprechen. Dass aber dabei die Empathie verloren geht, ist gefährlich. Ein Kommentar.
Da war die junge Syrerin, die auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg auf dem Mittelmeer ihren Ehemann verlor. Die Chemiestudentin, die die Unterdrückung der Frau und die Angst vor der Polizei im Iran nicht mehr ausgehalten hat. Oder der Pakistaner, der vor den Taliban floh und sich ein Vierteljahr durch den Nahen Osten und Europa bis nach Deutschland durchschlug.
2015 und 2016 las und hörte man viele solcher Geschichten. Die Deutschen fühlten mit den Geflüchteten, sie versuchten sich vorzustellen: Was, wenn wir in ihrer Lage gewesen wären?
Heute geht es häufig um Zahlen. 93.000 Asylanträge im ersten Halbjahr 2018. Es ist die Rede von Ankerzentren, Verteilquoten und Transitverfahren, als ob es eine logistische Aufgabe sei, die es hier zu bewältigen gälte. Politiker sprechen von Prozessen. Wie können Abschiebungen und Rückführungen schneller, effektiver von statten gehen?
Es geht nicht mehr um Menschen. Nicht mehr um Schicksale.
Der Diskurs hat sich verschoben. Natürlich ist es richtig, über Probleme bei der Integration zu sprechen. Es ist sinnvoll, einen Schutz der EU-Außengrenzen zu fordern, das war die Idee von Schengen. Es ist auch wichtig, zu unterscheiden zwischen Flucht vor Krieg und Verfolgung auf der einen und Armut auf der anderen Seite. Und ja, Deutschlands Möglichkeiten zur Aufnahme von Menschen sind begrenzt, wir müssen auswählen. Es gibt Realitäten, die gilt es anzuerkennen.
Beantworten Sie die Fragen und machen Sie mit bei der Aktion "Deutschland spricht":
Es geht um eine gesichtslose Masse
Aber das Pendel ist zu weit geschwungen. Die Debatte ist erschreckend empathielos geworden. Ihr fehlt die Menschlichkeit. Häufig ist nicht mehr von Flüchtlingen die Rede, sondern generell von Migranten. Es geht um eine gesichtslose Masse, die es zu bändigen gilt. Die „Zeit“ diskutiert in ihrer aktuellen Ausgabe im Politikteil die private Seenotrettung und fragt in der Schlagzeile: „Oder soll man es lassen?“ In diesem Jahr sind 1400 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Und Bundesinnenminister Horst Seehofer freut sich über die Abschiebung von 69 Afghanen an seinem 69. Geburtstag. Einer von ihnen begeht schließlich Selbstmord.
Die Empathielosigkeit ist gefährlich. Wenn wir einer bestimmten Gruppe von Menschen unser Mitgefühl entziehen, entsteht ein gesellschaftliches Klima, das rassistische Übergriffe duldet. Wenn aus Empathielosigkeit Hass wird, spielt das den Rechtspopulisten in die Hände. Sie unterstellen bereits jetzt allen, die zu uns kommen, potenzielle Mörder, Vergewaltiger und Messerstecher zu sein. Das langfristige Ziel, auch der AfD: das Grundrecht auf Asyl abschaffen und in ein „Gnadenrecht“ umwandeln.
"Gutmensch" ist über AfD-Kreise hinaus ein Schimpfwort
Der Duktus der AfD ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder spricht von „Asyltourismus“ und die CDU-Bundesministerin Julia Klöckner greift den Begriff in der „Tagesschau“ auf. Als ob eine Fahrt in einem überfüllten Schlauchboot eine Kreuzfahrt wäre.
Wenn wir Deutschen aus unserer Geschichte gelernt haben, müssen wir uns die Empathie bewahren. Es ist traurig, dass das Wort „Gutmensch“ schon weit über AfD-Kreise hinaus ein Schimpfwort ist. Menschlichkeit ist nicht naiv, sondern notwendig. Wir müssen über die, die zu uns kommen, wieder wie Menschen sprechen. Es liegt auch an der Regierung, eine verantwortungsvolle Sprache zu wählen – und gleichzeitig eine Migrationspolitik zu machen, die das Land nicht überfordert.