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Flüchtlinge kämpfen 2016 auf einem kenternden Boot vor Lybien um ihr Leben.
© picture alliance / Italian Navy /dpa

Zentrale Route über das Mittelmeer: Noch nie war das Risiko zu ertrinken für Flüchtlinge so hoch

Helfer und Küstenwachen teilten sich im Mittelmeer die Arbeit. Jetzt sind die NGOs ausgebremst – für Flüchtlinge steigt das Risiko zu ertrinken immens.

In diesen Tagen ertrinkt nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) einer von sieben Migranten auf der zentralen Route. Im ersten halben Jahr 2018 ertrank einer von 19, im Vorjahreszeitraum bezahlte einer von 38 Menschen den Versuch, nach Europa zu kommen, mit seinem Leben. Bis Freitag ertranken damit 1408 Afrikaner und Asiaten auf dem Weg nach Europa.

Das Ausmaß der Tragödie wird deutlich, wenn man die Zahl der Toten mit der Zahl der irregulären Grenzübertritte vergleicht: Im bislang tödlichsten Jahr 2016 kamen 5096 Ertrunkene auf 362.753 Zuwanderer, 2018 kommen – Stand heute – bereits 1408 Tote auf nur 46.407 Flüchtlinge. Bei dramatisch gesunkenen Zuwandererzahlen – Italien erreichen derzeit 80 Prozent weniger Menschen als noch vor einem Jahr – ist das tödliche Risiko knapp doppelt so hoch.

Hintergrund ist, dass sich gerade das Zusammenspiel der Akteure auf der zentralen Mittelmeerroute ändert. Die vier Beteiligten, deren Handeln unbeabsichtigt das der jeweils anderen „Spieler“ beeinflusst, sind erstens die Schlepper, zweitens die Küstenwachen von EU-Staaten (nicht nur Italien und Malta sind präsent, sondern auch Deutschland, England sowie viele andere EU-Staaten mit Schiffen und Flugzeugen), drittens private Hilfsorganisationen und NGOs und viertens die libysche Küstenwache.

Die EU rüstet die die libysche Küstenwache auf

Ziel der EU ist, irreguläre Grenzübertritte zu unterbinden. Dafür rüstet sie die libysche Küstenwache auf. Die Bemühungen zeigen Erfolg: Allein vergangene Woche hat der libysche Küstenschutz 2500 Menschen, die sich auf meist seeuntauglichen Schlauchbooten aufgemacht hatten, zurück nach Nordafrika gebracht. Im Juni waren es nach UNHCR-Angaben 10971.

Neu ist, dass Italien und Malta die seit Mitte 2014 praktizierte informelle Zusammenarbeit mit „Ärzten ohne Grenzen“, Sea Watch und anderen NGOs aufgekündigt und die Häfen dicht gemacht haben. Damit sind die Organisationen von Proviant und Treibstoff abgeschnitten und können zudem nicht mehr die Menschen, die sie aus Seenot gerettet haben, in der EU absetzen. Nur wenige Schiffe der NGOs wie die „Aquarius“, die kürzlich bis nach Marseille fahren musste, um die Flüchtlinge abzusetzen, sind für Seereisen von mehreren Hundert Kilometern geeignet.

Vorher gab es eine Art Arbeitsteilung: Die EU-Behörden patrouillierten südlich der europäischen Gestade, die NGOs waren näher an der libyschen Küste unterwegs, hielten meist nur zehn bis 50 Kilometer Abstand. Etliche Hilfsorganisationen nahmen Schiffsbrüchige nahe an der libyschen Küste auf, übergaben sie auf hoher See Schiffen der EU-Behörden, die die Flüchtlinge nach Sizilien und Lampedusa schipperten.

Darauf hatte sich die libysche Schlepper-Mafia eingestellt: Sie setzte die Zuwanderer nur noch auf Schlauchboote, mit denen die Überfahrt nach Italien und Malta unmöglich zu schaffen ist. Das Muster: Je näher die Rettungsboote den Flüchtlingen kommen, desto weniger investieren die Menschenhändler in seetaugliches Gerät und umso gefährlicher wird es für die Migranten. Wenn diese Glück hatten, wurden sie von den NGOs gerettet, die teils mit Drohnen und Flugzeugen das Gebiet absuchen.

Helfern wird vorgeworfen, Schleppern in die Hände zu spielen

Wenn man so will, machten die NGOs den Schleppern damit ihr Geschäft leicht. Mitglieder der Küstenwachen berichten, dass NGOs Flüchtlinge manchmal nur wenige hundert Meter von der Küste entfernt aufnahmen. Aber: Dass NGOs mit Schleppern gemeinsame Sache machen, wie Italiens Innenminister Matteo Salvini behauptet, schließen EU- Diplomaten aus.

Doch die NGOs werden zunehmend dafür verantwortlich gemacht, dass das Geschäft der Schlepper so problemlos funktioniert. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron warf den NGOs einen „schrecklichen Zynismus“ vor. Sie trügen dazu bei, die Gewinne der Schlepper zu erhöhen.

Boote der NGOs und der Küstenwache sollen sich teilweise ein „Hase-und Igel“-Spiel geliefert haben, wer am schnellsten bei Schiffsbrüchigen ist. Italien und Malta drangen daher darauf, dass der letzte EU-Gipfel die NGOs in die Schranken weist: Im Gipfeldokument steht der Satz, dass in jedem Fall die Anweisungen der Küstenwache Vorrang haben.

NGOs lehnen es ab, Flüchtlinge nach Libyen zu bringen

Fakt ist: Dass die NGOs nicht vor der Küste aktiv sind, hat massive Auswirkungen. Das UNHCR schätzt, dass 40 Prozent der Seenotrettung von NGOs geleistet wurde. Hinzu kommt: Das Geschäftsmodell der NGOs funktioniert bis auf weiteres nicht mehr. Sie finanzieren sich über Spenden.

Spenden fließen aber dafür, dass sie Schiffsbrüchige retten und in die EU bringen. Die NGOs sind strikt dagegen, Flüchtlinge nach Libyen zu bringen, wo UN-Hilfsorganisationen die humanitäre Lage als entsetzlich beschreiben.

Experten erwarten, dass auch die Schlepper reagieren. Schon jetzt weichen sie zunehmend nach Marokko aus. Spanien hat mit 18.723 Flüchtlingen 2018 bereits Italien (16.739) überholt. Ausgeschlossen wird auch nicht, dass Schlepper in Libyen wieder mehr Geld in Boote investieren und wie vor 2014 abwrackreife Seelenverkäufer benutzen.

Markus Grabitz

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