„Neustart“-Pressekonferenz des US-Präsidenten: Mehr Verwirrung als Aufbruchstimmung – was Joe Biden in 110 Minuten zu sagen hatte
Es war die erste Pressekonferenz nach 78 Tagen. Biden zog Bilanz. Und äußerte sich ausführlich zur Ukrainekrise. Dabei provozierte er reichlich Kritik.
Es war eine denkwürdige Pressekonferenz, die US-Präsident Joe Biden am Vorabend seines einjährigen Dienstjubiläums abhielt. Aus vielerlei Gründen, aber ganz besonders aus einem: Die Befragung durch die Hauptstadtpresse am Mittwochnachmittag entwickelte sich überraschend zu einem Marathon-Termin – mit ungeahnten Folgen.
Biden beantwortete Fragen von 24 Reportern und sprach insgesamt rund eine Stunde und 50 Minuten. Es schien fast so, als ob der 79-Jährige, den rechte Medien als senil verspotten, der Welt beweisen wollte, wie fit und durchhaltefähig er in Wahrheit ist.
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Das Problem: Biden ist nicht nur alles andere als ein begnadeter Redner, er neigt auch dazu, sich bei seinen Antworten gewaltig zu verplappern.
Ein Jahr nach der Vereidigung sind die Zustimmungswerte für Biden miserabel. Die Pandemie ist keinesfalls beendet, die Polarisierung des Landes ist nicht kleiner geworden, anders als Biden es vollmundig versprochen hatte.
Wichtige politische Vorhaben des Demokraten hängen im Kongress fest. Und ein Anstieg der Verbraucherpreise um sieben Prozent verärgert die Amerikaner, von denen viele sich enttäuscht über die unzureichende Antwort ihrer Regierung auf dieses Problem zeigen.
Daher versuchte das Weiße Haus vorab, die erste Pressekonferenz des Präsidenten seit zweieinhalb Monaten als eine Art „Neustart“ zu verkaufen. Die Erwartungen waren dementsprechend groß.
DIE UKRAINE-KRISE
Aus internationaler Sicht waren Bidens Ausführungen zur Ukraine wohl am bemerkenswertesten. Und wohl die mit Abstand kritischsten.
So erklärte er, mit einem zumindest begrenzten russischen Angriff auf die Ukraine zu rechnen. „Meine Vermutung ist, dass er reingehen wird“, sagte Biden über die Absichten des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Blick auf die Ukraine.
Putin werde den Westen und die Nato so stark „testen“, wie er könne. Biden sprach unter anderem von einem möglichen „kleineren Eindringen“ der russischen Streitkräfte in die Ukraine. Ein Ausdruck, der in Folge noch für Ärger sorgen sollte.
Biden sagte zudem, er glaube zwar weiterhin nicht, dass Putin einen „richtigen Krieg“ wolle. Ein Angriff auf die Ukraine könnte aber „außer Kontrolle“ geraten.
Zugleich warnte der US-Präsident, eine Invasion würde zu einer „Katastrophe für Russland“ führen. So würden die russischen Truppen selbst bei einem militärischen Sieg in der Ukraine „schwere“ Verluste erleiden.
Außerdem werde der Westen massive Sanktionen gegen Russland verhängen, sagte Biden. „Unsere Verbündeten und Partner sind bereit, Russland und der russischen Wirtschaft schwere Kosten und bedeutsamen Schaden aufzuerlegen.“
Auf die Frage, warum Putin sich dieses Mal von der Androhung möglicher Sanktionen beeindrucken lassen sollte, antwortete Biden, weil der russische Präsident noch nie Sanktionen dieses Ausmaßes gesehen habe, wie er sie ihm angedroht habe. Putin habe die Wahl: eine weitere Eskalation oder Diplomatie.
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Eine mildere Botschaft an den Kreml-Chef konnte man indes aus dem Satz herauslesen, er glaube nicht, dass die Ukraine in absehbarer Zeit Nato-Mitglied werde. Der Verzicht darauf ist eine zentrale Forderung Putins.
Biden brachte außerdem ein erneutes Gipfeltreffen mit dem russischen Staatschef ins Gespräch. Das sei eine „Möglichkeit“. Biden und Putin hatten sich zuletzt im vergangenen Sommer in Genf persönlich getroffen.
Das Weiße Haus versendet eine Klarstellung
Eine Dreiviertelstunde nach Ende der Pressekonferenz versandte das Weiße Haus eine Pressemitteilung, die Bidens Äußerungen zur Ukraine klarstellen sollten. Mit seiner Aussage zu einer „kleineren Invasion“ Russlands schien er angedeutet zu haben, dass sich die angedrohten Sanktionen nach dem Ausmaß eines potenziellen russischen Einmarschs richten könnten.
„Es ist eine Sache, wenn es sich um ein geringfügiges Eindringen handelt“, sagte Biden wörtlich. Um dann anzufügen: „Aber wenn sie tatsächlich das tun, wozu sie mit den an der Grenze zusammengezogenen Streitkräften in der Lage sind, dann wird das für Russland eine Katastrophe werden.“
Der US-Sender CNN zitierte einen ungenannten ukrainischen Regierungsvertreter mit den Worten, er sei „schockiert, dass der US-Präsident zwischen Eindringen und Einmarsch unterscheidet“. Das gebe Putin „grünes Licht, nach Belieben in die Ukraine einzudringen“. Der republikanische Senator Lindsey Graham sagte, er sei „fassungslos“ über die Äußerungen Bidens.
In der Mitteilung des Weißen Hauses erklärte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki: „Präsident Biden hat sich gegenüber dem russischen Präsidenten klar geäußert: Wenn sich russische Streitkräfte über die ukrainische Grenze bewegen, ist das eine erneute Invasion, und darauf werden die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten schnell, hart und geschlossen reagieren.“
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Der US-Präsident wisse aber, dass Russland „über ein umfangreiches Instrumentarium für Aggressionen“ unterhalb der Schwelle militärischer Aktionen verfüge – beispielsweise Cyberangriffe und paramilitärische Taktiken. Biden habe bekräftigt, dass auch solche Aggressionen der Russen „mit einer entschlossenen, gegenseitigen und gemeinsamen Antwort beantwortet werden“.
KLIMA- UND SOZIALPOLITIK
Aus innenpolitischer Sicht machten Bidens Ausführungen zum weiteren Vorgehen bei seinen zentralen politischen Vorhaben Schlagzeilen. Er gehe davon aus, dass noch vor den Zwischenwahlen im Herbst „große Teile“ seines Klima- und Sozialpakets den Kongress passierten. Damit deutete er an, dass sein bereits erheblich zurechtgestutzter „Build Back Better“-Plan weiter abgespeckt werden könnte.
Bis November könnten zum Beispiel Teile zur Förderung von Elektromobilität und für Energie und Klimaschutz beschlossen werden, sagte er. Die Maßnahmen hätten ein Volumen von rund 500 Milliarden US-Dollar (440 Milliarden Euro).
Damit sollen die beiden demokratischen Senatoren Joe Manchin und Kyrsten Sinema ins Boot geholt werden, die die Ausgaben mit einem Volumen von rund 1,75 Billionen Dollar als viel zu umfangreich empfinden. Biden sagte denn auch, Manchin unterstütze etwa einen Ausbau der frühkindlichen Bildung.
Der linke Parteiflügel wird darüber nicht erfreut sein. Aber Biden empfindet es als eine seiner größten Stärken, Kompromisse aushandeln zu können. Offenbar egal, wie sehr die wehtun.
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Und dann war da noch eine Aussage mit Blick auf 2024, die Nachrichtenagenturen eilten: Biden bestätigte auf eine entsprechende Frage, bei der nächsten Präsidentschaftswahl erneut zusammen mit seiner Stellvertreterin Kamala Harris ins Rennen gehen zu wollen.
„Ich denke, sie macht einen guten Job“, sagte er über die Vizepräsidentin. Der 79-Jährige hatte bereits erklärt, er werde sich 2024 um eine zweite Amtszeit bewerben – vorausgesetzt, er werde weiter gesund sein.
Die 57-jährige Harris, eine frühere US-Senatorin aus Kalifornien, ist die erste Frau in diesen Amt und zudem die erste schwarze Vizepräsidentin. Gestartet mit viel Vorschusslorbeeren sah sie sich zuletzt vermehrt Kritik angesichts ausbleibender politischer Erfolge ausgesetzt. Zudem haben sich diverse Mitarbeiter neue Aufgaben gesucht – im klatschverliebten Washington stets ein klares Indiz, dass da etwas gar nicht rund läuft.
DIE INNENPOLITISCHEN KRITIKPUNKTE
Scharfe Kritik gab es auch an Bidens Bemerkungen zur Legitimität künftiger Wahlen. Der Präsident hatte sich zurückhaltend geäußert bei der Frage, ob die Kongress-Zwischenwahlen im November ohne die von ihm unterstützten Wahlrechtsreformen fair und legitim sein könnten.
Biden erklärte, es hänge alles davon ab, ob man vor der amerikanischen Öffentlichkeit argumentieren könne, dass da teilweise manipuliert werde, um den Ausgang der Wahl zu verändern. Etwas später erklärte er, diese Midterms könnten „leicht illegitim“ sein.
Damit weckte ausgerechnet der Präsident, dessen Wahlsieg von seinem Vorgänger angezweifelt wird, nun seinerseits Zweifel am amerikanischen Wahlsystem.
Die Reaktionen ließen auch hier nicht lange auf sich warten – und das längst nicht nur in rechten Sendern wie Fox News. Senator Manchin sagte CNN, Biden und er hätten in dieser Frage „kleine Differenzen“. Senator Ben Cardin sagte, er hätte solche Worte wohl nicht benutzt.
Der als Trump-Kritiker bekannte republikanische Senator Ben Sasse verglich gar die beiden Präsidenten. „Wenn du der Präsident bist ..., stärkst du das öffentliche Vertrauen in unsere Wahlen. Traurigerweise äußern sich der amtierende und mehrfach auch der ehemalige Präsident zweideutig. Diese politisch narzisstischen, unsicheren Männer schaden dem öffentlichen Vertrauen wirklich enorm.“
Der Vergleich ist zwar angesichts der unerhörten „Big Lie“-Kampagne von Trump unredlich. Aber überhaupt in einem Atemzug mit diesem genannt zu werden, dürfte Biden empfindlich treffen.
DIE TIEFSTEN EINBLICKE
Bidens Auftritt, das zumindest lässt sich festhalten, war an vielen Stellen erfrischend ehrlich. Dazu braucht es noch nicht einmal den Vergleich mit seinem Vorgänger.
Gleich zu Beginn der Pressekonferenz beziehungsweise nach anfänglichem Lob des Regierungshandeln erklärte der Präsident, ja, man hätte wohl mit dem Testen in der Pandemie früher beginnen sollen. Selbstkritik hört man an dieser Stelle im Weißen Haus nicht so oft.
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Tatsächlich fehlten landesweit Tests, als die Omikron-Variante im Dezember die Pandemie einmal mehr in eine neue Krisenphase katapultierte. Das wäre vermeidbar gewesen.
Biden nannte zudem drei Punkte, die er künftig anders machen wolle: Er werde Washington häufiger verlassen, er werde mehr Expertenrat von außen einholen und er werde sich stärker in den anstehenden Wahlen für seine Partei engagieren.
Lacher verdiente sich der Präsident, als er auf die Frage eines Fox-News-Reporters, warum er das Land so weit nach links ziehe, erklärte, das tue er doch gar nicht und sich klar von denjenigen innerhalb seiner Partei abgrenzte, die sich selbst als Sozialisten bezeichnen. „Ich mag ihn. Aber ich bin nicht Bernie Sanders.“
Mehr oder weniger geschickt wich er der Frage nach seinen schlechten Beliebtheitswerten aus: „Ich glaube nicht an Umfragen.“, sagte er und wandte sich dem nächsten Fragesteller zu. Das muss man wiederum auch nicht glauben.
DIE KRITISCHSTEN REAKTIONEN
Dass die rechten Sender den demokratischen Präsidenten nach der Pressekonferenz scharf kritisierten, war zu erwarten gewesen. Aber auch in politisch eher der Mitte zuzurechnenden Nachrichtensendern war anschließend deutlich mehr Kritik als Lob zu vernehmen.
Der angekündigte Neustart sei das wohl nicht gewesen, hieß es beim Biden generell eher gewogenen Sender CNN. Das Weiße Haus habe nun ordentlich Aufräumarbeiten zu leisten. Und es sei ein Fehler gewesen, die PK so extrem in die Länge zu ziehen. Dem wird eventuell auch Biden zustimmen.