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Pflegesensibel: Für Intensivstationen gibt es fest vorgegebene Personaluntergrenzen.
© Kitty Kleist-Heinrich
Exklusiv

Wie es den Pflegekräften geht: Mehr Stress durch Personaluntergrenzen

Sie sollten helfen, doch die neuen Personaluntergrenzen haben die Situation in Kliniken eher noch verschlechtert. Und das war vor Ausbruch der Corona-Pandemie.

Sie sollten die Patientensicherheit erhöhen und die Pflege in den Krankenhäusern wieder menschlicher machen. Doch von zwei Dritteln der Pflegekräfte werden die von der Politik verordneten Personaluntergrenzen für Kliniken keineswegs als hilfreich empfunden. Das ist das überraschende Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK), die dem Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health vorliegt. Und auch für die Patienten hat sich die Situation durch die gut gemeinten Vorgaben aus Sicht einer Mehrheit der Pflegenden eher verschlechtert als verbessert.

„Die Liste der von den professionell Pflegenden in den Krankenhäusern geschilderten negativen Auswirkungen, die sie wegen der Pflegepersonaluntergrenzen Tag für Tag erleben, ist lang und gravierend“, heißt es in der Bewertung der Befragungsergebnisse durch den Verband. Und: Es handle sich dabei keineswegs um „Peanuts“, sondern um „handfeste Defizite“. Man habe in die Untergrenzen „die große Hoffnung gesetzt, dass nun endlich eine rote Linie gezogen würde, die das Schlimmste verhindert und die Grundlage für einen schrittweisen Aufbau von mehr Pflegekapazität in den Krankenhäusern legt“. Tatsächlich sei aber, wie sich jetzt zeige, das Gegenteil des Erwarteten eingetreten: „Der Stress hat noch mehr zugenommen, Fehler häufen sich, zusätzlicher Zündstoff für Konflikte ist entstanden und die so gebeutelten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reagieren mit Resignation, vermehrtem Krankheitsausfall und sogar Kündigungen.“

Belege für diese erste und ziemlich verheerende Bilanz finden sich in den Antworten auf 19 Fragen zu den Auswirkungen der Personaluntergrenzen im Arbeitsalltag der Pflegenden. Beteiligt haben sich an der Online-Umfrage 1.069 Pflegefachpersonen mit mindestens dreijähriger Berufsausbildung. 858 von ihnen haben das Formular vollständig ausgefüllt. Personaluntergrenzen (PpUG) gelten in deutschen Kliniken seit Januar 2019 für Intensivmedizin, Geriatrie, Kardiologie und Unfallchirurgie. 2020 kamen noch Herzchirurgie, Neurologie, Stroke-Units und Neurologische Frührehabilitation dazu. Allerdings sind die Untergrenzen seit dem 4. März ausgesetzt, um „bei der Personalplanung flexibel auf die Ausbreitung des Coronavirus reagieren“ zu können.

Von Verbesserungen berichten nur knapp 35 Prozent

Die Befragung erfolgte davor, sie fand zwischen dem 1. Oktober und dem 30. November 2019 statt, also ein knappes Jahr nach Einführung der ersten Personaluntergrenzen. 65,2 Prozent der Teilnehmer beschrieben deren Effekte als negativ. Von Verbesserungen, also etwa weniger Hektik und Entlastung durch mehr Personal, berichteten nur 34,8 Prozent. Befragt auf die Auswirkungen für die Patienten fiel das Ergebnis etwas ausgewogener aus: Hier sahen 52,2 Prozent negative und 47,8 Prozent positive Effekte.

Am häufigsten kritisierten die Befragten, dass es zu immer neuen Personalumverteilungen („meist sehr kurzfristig und oft auch stundenweise“) komme. Andere beklagten Stellenabbau und Überlastung, weil die Limits nach unten von manchen Personalplanern als Obergrenze missverstanden würden. In 10,3 Prozent der Fälle wurde der Umfrage zufolge Personal verringert. Unverändert blieb die Zahl der Beschäftigten in 55,4 Prozent der Fälle. Und nur bei 23,8 Prozent gab es das, was aufgrund der Untergrenzen eigentlich zu erwarten gewesen wäre: einen Personalzuwachs.

Als weitere Negativ-Auswirkungen genannt wurden Konflikte innerhalb und zwischen den Teams, mehr Unruhe und Stress, Qualitätseinbußen und höhere Fehlerquoten, Neid und Unzufriedenheit in Stationen ohne Untergrenzen – sowie eine Zunahme der Leiharbeit, weil das vorgegebene Mindestpersonal anders nicht aufzutreiben sei. Konkret gaben 31,4 Prozent der Befragten an, dass es bei ihnen Änderungen in den Fachbereichen und Abteilungszuordnungen gegeben habe – was aus der Sicht des Verbandes auch für die Patienten Belastung und ein „nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko“ bedeute.

Personalverschiebungen und mehr Bürokratie

Mehr als ein Viertel der Befragten berichtete, dass Patienten vermehrt auf andere Stationen ohne Personaluntergrenzen verlegt worden seien. Personalverschiebungen in beträchtlichem Umfang bestätigten mehr als 40 Prozent. Und die Frage, ob sich der bürokratische Aufwand infolge der Pflegepersonaluntergrenzen erhöht habe, bejahten ebensoviele.

Teilweise beliefen sich die genannten Zeitwerte dafür auf mehr als zwei Stunden pro Tag. Zudem gibt es in der Befragung Hinweise, dass mancherorts bei der Dokumentation des Personalbestands getrickst wird. „Nachträgliche Manipulation der Dienstpläne, um die Untergrenze einzuhalten“, beklagt eine Pflegekraft. Über „Scheindokumentation, doppelte Dienstpläne“, beschwert sich eine andere:  „Gerätemanager, Hygienepfleger, Case-Manager – alles was Examen hat, aber nie auf Station mitarbeitet, wird gezählt.“

Die Liste der Negativ-Effekte zeige „ein Versagen des Krankenhausmanagements, ein Zusammentreffen dramatischer Führungsfehler, den Verdacht, dass zugunsten der Ökonomie nicht nur zu Beginn der Einführung der PpUG, sondern im gesamten Jahresverlauf elementare Faktoren guter und nachhaltiger Betriebssteuerung vollständig ignoriert und missachtet worden sind“, heißt es in der Kommentierung des Pflegeverbandes. „Wie dies möglich war, werden die Verantwortlichen in der Politik sowie vor allem in den Trägerverbänden erklären müssen.“

Zusätzliche Belastung durch Corona-Ausnahmeregeln

Im Übrigen entsprächen die Personaluntergrenzen „nicht annähernd dem Bedarf an pflegerischem Fachpersonal, der sich aus dem Krankheitsspektrum und dem Grad an Pflegebedürftigkeit von Patient/innen ergibt“, so der DBfK. Der Befund, dass in vielen Bereichen Fachpersonal aufgestockt werden musste, um die Vorgaben zu erfüllen, zeige zwar einerseits, dass die Untergrenzen Wirkung entfaltet haben. Deutlich werde dadurch aber auch, „wie überaus schlecht die Personalausstattung vorher gewesen war, ohne dass gehandelt wurde“. Zudem belegten die Umfrageergebnisse, „dass die PpUG-Bereiche in aller Regel zulasten ungeregelter Bereiche verstärkt wurden“. Es sei Personal verlagert, aber nicht aufgestockt worden. „Damit verpuffen die eigentlich von der Politik beabsichtigten Verbesserungen.“

Sorge bereitet dem Verband zudem, dass die Corona-Ausnahmeregelungen für die Arbeit von Pflegekräften nach wie vor in Kraft sind, obwohl inzwischen immer mehr Kliniken zur Regelversorgung zurückkehren. Das könne man nicht akzeptieren, sagt Präsidentin Christel Bienstein. „Der DBfK fordert ausdrücklich, dass mit Hochfahren der Regelversorgung in den Krankenhäusern auch wieder reguläre Spielregeln gelten müssen, die zuvor wegen des pandemiebedingten Ausnahmezustandes ausgesetzt worden waren.“ Schließlich seien nicht nur die Personaluntergrenzen ausgesetzt, sondern auch Grenzen der Arbeitszeit aufgeweicht, vorgeschriebene Ruhezeiten verkürzt und erhebliche Zugriffsmöglichkeiten des Arbeitgebers auf das Pflegepersonal legalisiert worden, so Bienstein. „Wir werden es nicht hinnehmen, dass mithilfe der Pandemie auf Dauer noch schlechtere Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal eintreten als sie schon vor der Krise waren.“

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