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Im Tokioter Szeneviertel Shibuya sind 60 Quadratmeter Wohnfläche ein großer Luxus.
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Wohnungsnot in Tokio: Maß und Meter

In der größten Metropole der Welt sind bezahlbare Wohnungen kaum mehr zu haben. Die Bewohner Tokios lösen das Problem auf ihre Weise – und leben in immer kleineren Räumen. Eine Herausforderung für Architekten. Doch wo wird aus Effizienz zu große Enge?

Nach dem Gang durch das schäbige Treppenhaus traut man seinen Augen nicht. Eben ratterte noch ein klappriger Fahrstuhl die Etagen hoch. Der Flurboden aus Laminat, die braunen Kacheln unten an der Wand und die angegilbte Tapete darüber versprachen ebenfalls nichts Gutes. Aber dann. Hinter einer schweren Metalltür, in die der Schlüssel erst nicht passen wollte, tut sich dieses bis ins letzte Detail durchgestylte Luxusapartment auf.

Adam German führt in den Eingangsbereich der Wohnung im Zentrum Tokios, mitten im Szeneviertel Shibuya. Schuhe ausziehen, die Spitzen parallel nebeneinander Richtung Wohnungstür parken. So gehört es sich in Japan. Der wuchtige Makler im locker sitzenden dunklen Anzug breitet die Arme aus. „Das hier ist eines unserer besonderen Objekte“, sagt er. Ein Highend-Kühlschrank, Regale aus edlem Holz. Teure Deckenleuchten hängen tief in die zweieinhalb Zimmer, die durch Rolltüren zu einem einzigen Raum umfunktioniert werden können. „Alles vom Designer gemacht.“

Platz ist Mangelware

Doch schon die gut 60 Quadratmeter Wohnfläche an sich sind ein Luxus. In der mit 37 Millionen Einwohnern größten Metropole der Welt, der zugleich wirtschaftskräftigsten des Planeten, ist auch die Bevölkerungsdichte höher als in den meisten Städten. Auf einem Quadratkilometer leben hier 4750 Menschen, mehr als doppelt so viel wie in New York. Platz ist in Tokio Mangelware.

Regelmäßig rangiert Tokio bei weltweiten Vergleichen der teuersten Städte auf den oberen Plätzen. Hier und in Hongkong investierten zuletzt die meisten Milliardäre in Immobilien, in zunehmender Zahl sind es Superreiche aus China und anderen asiatischen Wachstumsländern. Immer seltener aus Japan selbst. Laut einer Analyse der Immobilienfirma Savills kosten die raren großen Grundstücke mit 1500 Quadratmetern mehr als 100 Millionen Euro. Allerdings deuten die Analysten an, der Markt sei so gut wie ausgeschöpft. Auch leer steht fast nichts.

Adam German, Immobilienmakler in Tokio.
Adam German, Immobilienmakler in Tokio.
© Felix Lill

Die Planer-, Bau- und Maklerszene in Japans Hauptstadt ist dynamisch und schnelllebig, denn das Geschäft ist hart. Wegen der sehr hohen Landpreise wird eine typische Immobilie nach etwa 30 Jahren abgerissen und an ihrem Platz eine neue gebaut. Denn auf diese Weise kann mehr Geld verdient werden. Tokio hat deshalb auch die höchste Architektendichte der Welt, in ganz Japan arbeiten pro Kopf viermal so viele wie in Deutschland. Und so zeigt auch die Skyline der Hauptstadt in jedem Viertel ein Meer von Gebäuden, von denen so gut wie keines dem anderen ähnelt. Zwischen Wolkenkratzern verstecken sich schmale, zweistöckige Häuser, die Grenzen der kleinen Parks mit Tempeln oder Schreinen sind durch Hochhäuser gezeichnet. Beton aber ist fast überall zu sehen. Denn der größte Teil der Stadt wurde irgendwann mal bebaut.

Wirtschaftliche Stagnation

In diesen Tagen ist es 25 Jahre her, dass in Japan eine der größten Immobilienblasen der Geschichte platzte. Anfang 1990 halbierte sich Tokios Aktienleitindex Nikkei 225 binnen kürzester Zeit, ähnlich wie der Dow Jones in New York, als ab Sommer 2007 die globale Finanzkrise begann. Grundstückspreise im Land fielen innerhalb von fünf Jahren auf ein Viertel ihrer einstigen Höchstwerte. Der gesamte ökonomische Schaden dieses Einbruchs ist kaum zu beziffern. Sicher aber ist: Die Folge war eine wirtschaftliche Stagnation, in der das Land bis heute verharrt. Der „Bubble Crash“ bescherte der damals zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt das Ende einer Gesellschaft, in der die Einkommen recht gleichmäßig verteilt waren. Kaum irgendwo zeigt sich dies heute so stark wie beim Wohnen.

„Leben kostet hier richtig was“, sagt Adam German, der für das führende Maklerbüro Housing Japan arbeitet. Als der Mittvierziger vor elf Jahren aus Kanada nach Tokio kam, waren bereits Preise von 1000 Euro Miete pro Monat üblich für eine kleine Wohnung, die Küche, Schlafzimmer und Eingangsbereich in einem Raum vereinte.

Die Tokioter Standardwohnung ist ein Schlauch

Das Apartment, das German gerade vorführt, hat einen Kaufpreis von 50 Millionen Yen, rund 360 000 Euro. Ein Heim für „Leute, die ihren Wohlstand auch im Leben zeigen können“, wie er sagt. Nur gibt es von denen seit Jahren immer weniger. Eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern kann heute froh sein, wenn sie mehr als 50 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung hat. Für die steigende Anzahl von Single-Haushalten – eine WG-Kultur kennt Japan nicht – gibt es oft kaum 20 Quadratmeter.

Die Tokioter Standardwohnung ist ein Schlauch: einem Eingangsbereich von einem Quadratmeter, wo sich Schuhe und Jacken stapeln, folgt eine vollgepackte Küchenzeile mit etwas Stauraum darüber, auf der anderen Seite liegt das Bad. Geradeaus die Tür zum Wohnzimmer, das gleichzeitig Schlaf- und für immer mehr Menschen auch Arbeitsplatz sein muss. Insgesamt passen zwischen die dünnen Wände 16 oder 17 Quadratmeter, von denen jeder genutzt wird.

Vor einem Vierteljahrhundert hätte der Durchschnittsjapaner zumindest noch darüber nachdenken können, irgendwann mal in eine geräumigere Wohnung zu ziehen. Aber diese Ära scheint vorbei. Es waren Zeiten, die sich Leute wie Adam German kaum vorstellen können. „Die Preise gingen nur nach oben, das berichten mir ältere Kunden, und zwar in allen Bereichen. Das muss unglaublich gewesen sein.“ Angetrieben durch niedrige Zinsen blähte sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre besagte große Immobilienblase auf. Einen Höchststand von 37 189 Punkten verzeichnete der Nikkei 225 am 1. Januar 1990, nachdem er auch zwei Jahre zuvor mit nur knapp der Hälfte davon schon einen Rekord erzielt hatte. Heute liegt er bei gut 18 000.

Vor 25 Jahren kam es zum Crash

Japans Wirtschaft erreichte Wachstumsraten von fünf Prozent. An den Straßenrändern winkten Angestellte Taxis mit Geldscheinen herbei, Nachtclubs boomten trotz wahnwitziger Preise. Immobilien wurden gekauft, verkauft, weiterverkauft. So rasant stiegen die Preise an, dass Wohnungen in einigen Teilen Tokios 350 Mal so teuer waren wie in Manhattan. Das Land unter dem Kaiserpalast in Tokios Zentrum soll sogar mehr wert gewesen sein als der gesamte US-Bundesstaat Kalifornien.

Doch Ende 1989 gelangten die Experten der Bank of Japan zur Überzeugung, dass es sich nur noch um eine Spekulationsblase handeln könne, die früher oder später platzen müsse. Die Zentralbanker hoben die Zinsen lieber sofort an, womit sie aber den Spekulanten die Zuversicht auf weitere Preisanstiege nahmen. In den folgenden Monaten kam der Crash. Ähnlich schnell, wie Japans Wirtschaft in den Jahren zuvor gewachsen war, raste das Land nun in eine Rezession. 2004, als Adam German in die Stadt kam, hatte Tokios Wohnimmobilienmarkt noch ein Zehntel des Werts aus Boomzeiten. Einige Viertel waren sogar nur noch ein Prozent davon wert.

Jeder dritte Japaner hat keinen festen Job

Der Aufschwung blieb in den Jahren danach allerdings aus. Schon lange sind die Einkommen der Japaner nicht mehr gestiegen, verdienen die Menschen nicht mehr, sondern weniger. Die Beschäftigungsverhältnisse haben sich generell verschlechtert. Jeder dritte Japaner hat keinen festen Job, kann deshalb auch so gut wie nichts ansparen. Und da es sich die Vermieter einfacherer Wohnungen in der Hauptstadt unter diesen Umständen nicht erlauben können, höhere Preise zu verlangen, antworten sie auf andere Weise: Für die große Gruppe der Japaner, die dringend aufs Geld schauen müssen, wird der Wohnraum stetig enger.

Keiji Ashizawa hat dieses Problem zu seinem Beruf gemacht. Im Büro des Architekten, im nördlichen Zentrum der Hauptstadt, hängt ein Fahrrad unter der Decke, die Regale sind voll mit Büchern, Holzschnitten und Modellen. Auf 40 Quadratmetern arbeitet ein knappes Dutzend Mitarbeiter. Den ganzen Tag über fragt sich Ashizawas Team, wie sich diese Stadt noch platzsparender und multifunktionaler gestalten lässt.

Keiji Ashizawa, Jahrgang 1973, arbeitet für beide Klassen Tokios, die Wohlhabenden mit den sicheren Jobs und reichlich Kaufkraft, und diejenigen ohne sichere Einkommen oder die Aussicht auf Boni. Ashizawa, ein schmächtiger Mann in blauem Sweater und Jeans, sieht in beiden Schichten dasselbe Grundproblem: „Platz sparen müssen sowieso fast alle“, sagt er milde lächelnd und zeigt auf das Fahrrad über seinem Kopf.

Ein Stuhl kann gleichzeitig Tisch sein, ein Bett auch Sofa

Wie Tokio das machen kann, weiß Ashizawa genau. Viele Lösungen kommen ja von ihm. Seine typische Variante besteht aus Schiebetüren, Stauraum unter den Treppen oder in den Wänden, rechtwinkligen Räumen und Möbeln, dazu Badezimmer, die trotz wenig Platz einen größtmöglichen Bewegungsspielraum bieten, weil alles nass werden darf.

Mit diesem Grundkonzept, ständig auf Raumeffizienz zu achten, ist Keiji Ashizawa auch für internationale Auftraggeber ein gefragter Mann geworden. Für Ikea entwirft er Möbel, zum Beispiel ein kleines Regal mit unterschiedlich großen Stauflächen, das gleichzeitig als Garderobe funktioniert. In der boomenden südafrikanischen Metropole Johannesburg soll Ashizawa jetzt 25-Quadratmeterwohnungen entwerfen – nach seinem Tokioter Vorbild. Für ein japanisches Businesshotel hat er Zimmer geplant, in denen der Schreibtisch gleichzeitig die Treppe zu einem Hochbett ist.

Aus dem Regal kramt er das Modell des Hotels. Die Pappbetten, Leitern aus Zahnstochern und Tische aus Papier lassen keinen Quadratzentimeter ungenutzt. „Wir können die Räume noch besser in der Höhe ausspielen und die Möbel können multifunktional genutzt werden. Dorthin bewegt sich im Moment alles.“ Ein Stuhl könne gleichzeitig Tisch sein, ein Bett auch Sofa und der Küchencounter Teil des Badezimmers. Der schmächtige Keiji Ashizawa sagt, dass er noch lange nicht am Ende seiner Ideen ist. Nur wie weit kann sich diese Perfektionierung noch fortsetzen? Wo wird aus Effizienz zu große Enge?

Tokio wächst unaufhaltsam

In Shibuya hat Adam German gerade wieder die Tür zur Luxuswohnung von außen zugemacht. Im Toyota seines Arbeitgebers stottert er durch den Feierabendverkehr Tokios. Weit über dem glänzenden Blechdach des Hybridwagens flimmern Leuchtreklamen und strahlen ausgeleuchtete Büroräume. Viele dieser Wolkenkratzer haben all die Preisschwankungen der vergangenen Jahrzehnte mitgemacht, waren schon einmal noch viel mehr wert als heute. „Momentan sind wir sicher, dass es erst mal nur noch bergauf geht“, sagt German. Die Zinsen seien schon lange niedrig, Tokio wachse unaufhaltsam weiter, und in Zeiten der globalen Unsicherheit gilt die Metropole Investoren als sicherer Hafen. Zudem veranstaltet die Stadt in fünf Jahren die Olympischen Spiele. Doch die Zahl der Geringverdiener nimmt weiter zu, und die der Obdachlosen auch. Internetcafés und billige Kapselhotels sind längst zu beliebten Domizilen von Wohnungslosen geworden.

Der Wagen von Adam German parkt jetzt vor einem anderen teuren Objekt in Minato, einem weiteren wohlhabenden Stadtviertel. Vier Schlafzimmer, 158 Quadratmeter, 6100 Euro Monatsmiete. Die Alarmanlage an der Haustür ist automatisch mit einem Sicherheitsunternehmen aus der Gegend verbunden, das Bad ist zugleich eine selbstständige Trockneranlage. An die Schlafzimmer auf drei Stockwerken schließen sich kleine, begehbare Kleiderschränke an, ganz oben bietet ein Dachgarten einen Blick auf die Skyline Tokios. „Schön, oder?“, fragt Adam German, als er auf der Dachterrasse den Sonnenuntergang beobachtet. „Fast täglich kommen Anfragen.“ Vor allem seien es Ausländer, die nicht mieten, sondern kaufen wollen. Denn seit der Yen binnen der vergangenen zwei Jahre mehr als ein Drittel seines Wertes verloren hat, sind Immobilien für US-Amerikaner oder Europäer eine gute Investitionsmöglichkeit geworden. Eine richtig positive Entwicklung sei das für den Immobilienmarkt. „Die Preise werden steigen“, sagt Adam German noch einmal. „Ohne Zweifel.“ Anders ausgedrückt: Gutes Wohnen wird in Tokio in Zukunft noch mehr zum Luxus werden.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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