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Wo geht's lang mit SPD? Sigmar Gabriel führt die Sozialdemokraten seit 2009.
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Interview mit Sigmar Gabriel: "Man muss auch dienen können"

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel erklärt, warum er vor der Reichensteuer warnt. Im Interview spricht er außerdem über die Kanzlerkandidatenfrage und seine größte Niederlage als Parteichef.

Herr Gabriel, lassen Sie uns über Höhen und Tiefen Ihrer Zeit als SPD-Chef sprechen. Was war Ihr größter Fehler in diesen zwei Jahren?

Dass wir Thilo Sarrazin nicht aus der SPD rausbekommen haben, empfinde ich als Niederlage. Das belastet mich bis heute. Ich muss das Vorgehen des Schiedsgerichts akzeptieren. Und ich habe auch Verständnis für alle in meiner Partei, die froh waren über das Ende der Debatte. Aber die Sozialdemokratie darf die von Sarrazin betriebene Verknüpfung von sozialen und genetischen Fragen unter keinen Umständen zulassen.

Hätten Sie nicht wissen müssen, dass ein Ausschlussverfahren gegen Sarrazin wenig Aussicht auf Erfolg haben würde?

Ich war mir der Risiken natürlich bewusst. Aber ich konnte und wollte bei so einer prinzipiellen Frage nicht taktieren. Es ist eine Schande, dass die Debatte außerhalb der SPD kaum geführt wurde.

In der aktuellen Debatte um den Neonazi-Terror haben Sie der Mitte der Gesellschaft vorgeworfen, rechtsextremistische Gewalt verharmlost zu haben. Heißt das: Wir alle haben uns schuldig gemacht?

Ganz sicher nicht. Vor allem diejenigen nicht, die seit vielen Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt haben und sich dagegen engagieren. Tatsache ist aber, dass der Rechtsradikalismus umso größere Erfolgschancen hat, je mehr in der Mitte der Gesellschaft Überfremdungsängste, Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile ignoriert, verdrängt oder sogar offen propagiert werden.

Das klingt, als unterstellten sie weiten Teilen der Bevölkerung eine latente Zustimmung zu rechtsradikalen Gewalttaten.

Das tue ich gewiss nicht. Aber es gibt in allen modernen Gesellschaften eine Vielzahl von Ängsten, Brüchen in der Biografie und Überforderungen. All das produziert auch autoritäre Sehnsüchte und den Wunsch nach einfachen und scheinbar klaren Antworten. Nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern mitten im Zentrum.

Und Sarrazin hat diese Ängste befördert?

Wir alle sind nicht nur dafür verantwortlich, was wir tun oder was wir nicht tun, sondern auch für das politische Klima, dass wir im Land verbreiten. Wer Ressentiments und Vorurteile predigt, auf den berufen sich dann eben auch die Rechtsradikalen. Das genau ist ja Thilo Sarrazin auch passiert, als die NPD ihn für ihre Wahlslogans missbrauchen wollte. Und je mehr sich Ressentiments und Vorurteile Bahn brechen, umso größer wird die Bereitschaft am extremen Rand, noch einen Stück weiter zu gehen. Umso mehr, wenn sie von einem Mitglied des gesellschaftlichen Establishments formuliert werden.

Was würde denn eine SPD-geführte Bundesregierung unternehmen, um den Rechtsradikalismus wirksamer zu bekämpfen?

Wieder für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen. Die Städte und Gemeinden aus ihrer finanziellen Hilflosigkeit befreien, damit nicht Jugendzentren, Kultur- und Freizeitangebote und soziale Einrichtungen immer mehr geschlossen werden. Das ist genauso wichtig, wie die NPD endlich zu verbieten. Es ist obszön, dass wir uns über deren mörderische Parolen beschweren, ihre Verbreitung aber durch Steuermittel und Wahlkampfkostenerstattung finanzieren. Außerdem brauchen wir eine Bundesstiftung für demokratische Kultur, um die vielen Initiativen gegen den Rechtsradikalismus endlich langfristig und unbürokratisch unterstützen und finanzieren zu können.

Zurück zu Ihrer Bilanz als Parteichef. Viele Genossen erleben Sie als unbequemen Vorsitzenden. Es heißt, sie seien sprunghaft, würden den Apparat überfordern und zu viele Themen anstoßen, ohne die Arbeit wirklich zu Ende zu bringen. Alles falsch?

Es wird wohl drauf ankommen, mit wem Sie reden. Denn natürlich musste ich nach einer 23-Prozent-Niederlage auch am Schlafwagen mancher Selbstgewissheiten rütteln. Ich durfte und darf nicht zulassen, dass alles bleibt wie es ist. Eine lebendige Partei muss ihre Konflikte austragen. Dafür muss ich Sorge tragen. Ich kann mich doch nicht damit abfinden, dass wir zu wenig Frauen, zu wenig junge Leute, zu wenige mit normalen Berufen in der Partei haben. Wir werden immer mehr als Teil des Staates wahrgenommen und immer weniger als Teil der Gesellschaft. Das stößt Menschen heutzutage ab. Und der Erfolg gibt uns ja Recht: Die SPD hat wieder Zulauf und die Arbeit hat sich gelohnt. Und ich bin sehr froh, dass die allermeisten in der SPD das auch ändern wollen. Das ist das Verdienst der Überzeugungsarbeit von Andrea Nahles und von Astrid Klug, der Generalsekretärin und der Bundesgeschäftsführerin der SPD, die beide mit ungeheurem Engagement und vielen klugen Vorschlägen diese Veränderung der SPD vorangetrieben haben.

Mit dem zentralen Punkt Ihrer Parteireform sind Sie aber am Beharrungswillen der Funktionäre gescheitert. Aus der Beteiligung von Nichtmitgliedern an der Urwahl des Kanzlerkandidaten wird nichts, obwohl sie vehement dafür geworben haben.

Das Organisationsstatut, das wir auf dem Parteitag kommende Woche beschließen wollen, macht die SPD wieder zu einer echten Mitgliederpartei, schafft überflüssige Gremienarbeit ab und öffnet die SPD so sehr für die Beteiligung von engagierten Nicht-Mitgliedern der SPD, wie es das noch nie gegeben hat. Es gibt einen Punkt, bei dem die Mehrheit der SPD-Mitglieder nicht so weit gehen will wie ich: bei der Bereitschaft, unsere Kandidaten für öffentliche Ämter durch echte Vorwahlen wie gerade bei den französischen Sozialdemokraten aufstellen zu lassen. Diese Möglichkeit wird jetzt zwar geschaffen, aber sie wird nicht zum Standard gemacht.

Jetzt reden Sie sich die Niederlage schön.

Warum sollte ich? Ich kann nicht einerseits sagen, dass die Mitglieder mehr Entscheidungsrechte haben wollen, und dann versuchen, meinen Kopf in einer einzelnen Frage ohne Rücksicht auf genau diese Mitglieder durchzusetzen. In der SPD gibt es die Angst, dass die Mitgliedschaft entwertet wird, wenn Bürger ohne Parteibuch Kandidaten mitwählen dürfen. Ich bin mir aber sicher, dass die Akzeptanz wachsen wird. Das Beispiel der französischen Sozialdemokraten zeigt, welche ungeheure Kraft von solchen Prozessen ausgeht. Die SPD wird ganz sicher von der Mitglieder- zur Mitglieder- und Bürgerpartei wachsen.

Seite 2: "Mit einem Überbietungswettbewerb von Steuererhöhungen kann man keine Wahl gewinnen."

Es gilt als Ihre größte Leistung, die SPD geeint und die jahrelangen Flügelkämpfe beendet zu haben. Dafür waren nach Schröders Agenda-Jahren Kurskorrekturen nötig, etwa bei der Rente mit 67. Zugleich haben Sie aber Peer Steinbrück als möglichen Kanzlerkandidaten ins Spiel gebracht, obwohl er diese Korrekturen für falsch hält. Wie passt das zusammen?

Es gibt da keinen Widerspruch. Auch Peer Steinbrück trägt den neuen Kurs mit. Wir nehmen ja auch gar nicht Abschied von der Rente mit 67 und machen keine Totalrevision der Reformpolitik von Gerhard Schröder. Wir machen aber Vorschläge für Leute, die heute nicht mal bis 65 arbeiten können, damit sie ohne große Abschläge in Rente gehen können. Unstrittig ist auch, dass die Agenda 2010 bei all ihren Erfolgen auch Dumpinglöhnen Tür und Tor geöffnet hat. Letztlich haben wir dadurch Arbeit entwertet. Und das darf eine sozialdemokratische Partei nicht tun: Den Wert der Arbeit infrage zu stellen. Das mussten wir korrigieren.

Können Sie für die Geschlossenheit der SPD garantieren, wenn Steinbrück Kanzlerkandidat wird?

Wer Kandidat wird, entscheiden wir Ende 2012, Anfang 2013, und diese Entscheidung wird von der ganzen Partei getragen. Denn ich werde denjenigen vorschlagen, bei dem ich sicher bin, das Person, Programm und Team zusammenpassen und wir die größten Chancen haben.

Es fällt irgendwie schwer, sich vorzustellen, dass Steinbrück oder Frank-Walter Steinmeier ins Kanzleramt einzieht, während sich Sigmar Gabriel mit der Rolle des dienenden Parteichefs begnügt.

Die SPD hat eine ungeheuer stolze Tradition. Unser Land wäre heute nicht da, wo es ist, ohne die Arbeit von hunderttausenden Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den letzten 150 Jahren. Für all das haben viele gestritten und auch gelitten. Wenn man dann Vorsitzender mitten in einer großen Krise dieser stolzen und ältesten demokratischen Partei wird, muss man sich seiner Verantwortung bewusst sein. Und die bedeutet: Es geht nicht um eigene Karrierewünsche. Die darf man haben, aber die dürfen nicht den Kompass bilden. Und vielleicht hört es sich etwas zu pathetisch an, aber es gibt keinen passenderen Begriff: man muss auch dienen können – und das kann ich so, wie es viele vor mir in diesem Amt konnten.

Die SPD-Linke will auf dem Parteitag die Reichensteuer durchsetzen. Lassen sich damit Wahlen gewinnen?

Mit einem Überbietungswettbewerb von Steuererhöhungen kann man natürlich keine Wahl gewinnen. Und ein Spitzensteuersatz von über 50 Prozent würde genau diesen Eindruck vermitteln. Ich bin für Steuergerechtigkeit, aber auch da sind Maß und Mitte wichtig. Die SPD muss sich im besten Sinne sozial und auch liberal aufstellen. Liberal nicht im Sinne der FPD, die ja den wirklichen Liberalismus längst verloren hat. Die SPD muss dieses Erbe wieder so in sich aufnehmen, wie es schon einmal der Fall war. Aber mit Blick auf das aufgeklärte Bürgertum. Denen darf man aber nicht den Eindruck vermitteln, zur Finanzierung des Gemeinwesens fielen Sozialdemokraten nur eine Unzahl von Steuererhöhungen ein.

Können Sie nach zwei Jahren an der Spitze der SPD damit zufrieden sein, dass es in den Umfragen keine Mehrheit für Rot-Grün gibt, obwohl die Koalition ein Bild der Zerrissenheit abgibt?

Erstmal verliert die amtierende Regierung permanent. Wir sind auf einem guten Weg, es ist jetzt Halbzeit. Am Ende wird es eine realistische Chance für Rot-Grün geben. Diese Regierung wird 2013 keine Mehrheit mehr haben. Bis dahin müssen wir einen echten Regierungswechsel organisieren, nicht nur einen halben.

Das heißt: Keine große Koalition?

Wir wollen Rot-Grün. Die Schnittmengen mit den Grünen sind am größten. Und ich wünsche mir starke Grüne als Partner.

So stark wie derzeit in Berlin?

Man darf das Berliner Chaos bei den Grünen nicht auf den Bund übertragen. Die Grünen haben doch erfahrene Leute an der Spitze: Das gilt für Renate Künast und Claudia Roth ebenso wie für Cem Özdemir wie für Jürgen Trittin. Wenn die Regierung Merkel an der europäischen Schuldenkrise zerbricht, wären wir zusammen mit den Grünen aus dem Stand in der Lage, zu übernehmen. Von Steinmeier und Steinbrück wissen die Leute ohnehin: Das sind erfahrene Krisenmanager, die viele Hunderttausende von Arbeitsplätzen während der Finanzkrise 2008/2009 gerettet haben.

Die Wähler werden die SPD auch danach beurteilen, welche Lösungen sie für die europäische Schuldenkrise anbieten kann. Glauben Sie, dass es für Euro-Bonds eine Mehrheit in Deutschland gibt?

Es gibt dagegen sowohl in der SPD als auch im Rest der Bevölkerung breite Skepsis. Das Problem ist doch aber, dass wir längst eine solche Gemeinschaftshaftung haben. Frau Merkel hat doch diese Euro-Bonds durch die Hintertür eingeführt, denn die Europäische Zentralbank kauft derzeit ohne Grenzen Schuldpapiere von Euro-Staaten auf. Das sind dann wohl „Merkel-Bonds“, denn die EZB handelt ja als Nothelfer, weil Frau Merkel andere Lösungen blockiert.

Und Euro-Bonds sind die Lösung?

Nur, wenn wir die europäischen Verträge ändern und dafür sorgen, dass die Haushalte der Mitgliedstaaten strikt kontrolliert werden. Das große Risiko dieser „Merkel-Bonds“ über den Umweg der EZB ist doch, dass damit keinerlei Einfluss auf die Staatshaushalte der Euro-Krisenstaaten verbunden ist. Dafür muss man die Verträge der Eurozone ändern. Aber das ist auch bitter nötig, denn Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer europäische Hilfe braucht, muss auch zulassen, dass nachgeschaut wird, ob mit den Staatsfinanzen besser umgegangen wird. Sonst wird es ein Fass ohne Boden.

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