Klassische Volksparteien unter Druck: "Macron verkörpert Populismus von oben"
Der Pariser Sozialanalyst Christophe Guilluy rechnet damit, dass es auch in Deutschland zu einem parteipolitischen Umbruch wie in Frankreich kommt. Im Interview fordert er ein "radikales Umdenken" von Politikern wie Macron und Merkel.
Herr Guilluy, gehören Sie zur französischen Elite?
(lacht) Das ist eine schwierige Frage. Statt von „Elite“ spreche ich lieber vom „Frankreich von oben“ oder den oberen Kategorien in der Gesellschaft. Insgesamt würde ich mich nicht dazu zählen, denn ich gehöre nicht zum traditionellen akademischen Kosmos.
Und Sie haben auch nicht das Pariser Elitegymnasium Henri IV. besucht wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Stimmt, in diesem Sinne gehöre ich nicht zur Elite.
Ihr Thema sind die unteren und mittleren Schichten in Frankreich, die eher abseits der großen Städte leben. Ist Macron ein Vertreter dieser Schichten?
Nein. Wenn man auf die Landkarte schaut, dann stellt man fest, dass Macron in den Regionen gewählt wurde, die am besten in die globale Wirtschaft integriert sind – also vor allem in den großen Städten und florierenden Regionen. Er wurde in erster Linie von denen zum Präsidenten gemacht, die ihren Platz in der Globalisierung und der neuen Wirtschaftsordnung gefunden haben. Zudem wurde er von denen gewählt, die vor der Globalisierung geschützt sind – also von Rentnern und einem Teil der Beamtenschaft. Es gibt eine neue Trennlinie zwischen den globalisierten Metropolen und der Peripherie, und entlang dieser Trennlinie hat sich ein neues Parteiensystem etabliert.
Verkürzt gesagt: Macrons Regierungspartei La République en Marche vertritt die erfolgreichen Städter, der rechtsextreme Front National die Abgehängten auf dem Land?
Der Front National wird von denen gewählt, die aus der Mittelschicht abgerutscht sind. Wir sind gerade Zeugen des Verschwindens der Mittelschicht in der westlichen Welt – eine Folge der Globalisierung. Die traditionellen Parteien auf der Linken und auf der Rechten traten als Vertreter der Mittelschicht auf. Inzwischen sind neue Parteien entstanden, und das ist auch eine Antwort auf ein verändertes Wirtschaftsmodell.
Aber dieses Wirtschaftsmodell, also die Digitalisierung, hat auch Vorteile für die Allgemeinheit. Es kann Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Um es mit Macron zu sagen: Digitale Beförderungsplattformen geben jungen Leuten aus den Banlieues, die ansonsten arbeitslos wären, eine Chance als Chauffeur.
Dass ich die geografische Aufspaltung der Wählerschaft aufgezeigt habe, heißt ja nicht, dass ich das Rad zurückdrehen will. Die Globalisierung ist ein Faktum. Die Globalisierung, so wie wir sie kennen, schafft Reichtum und Beschäftigung. Schauen Sie sich Städte wie Paris, Toulouse oder Lyon an: Dort hat die Globalisierung positive Auswirkungen. Das Problem ist nur, dass das neue Wirtschaftsmodell nicht die Mehrheit der Angestellten oder der unteren Schichten einbindet, wie dies in den 1960er Jahren noch der Fall war. Die guten wirtschaftlichen Indikatoren, die wir beispielsweise in Deutschland verzeichnen, täuschen darüber hinweg, dass wir es mit großen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben. Die Frage ist: Wie integrieren wir die, die nicht integriert sind?
Und wie lautet die Antwort?
Als Macron noch Wirtschaftsminister war, habe ich ihm meine Karte mit der neuen sozialen Landschaft Frankreichs gezeigt. Er zeigte sich mit meiner Diagnose einverstanden. Ich habe ihm dann die Frage gestellt: Was soll man in den Gegenden machen, in denen keine Arbeitsplätze für die Arbeiterklasse entstehen? Da hat er gezögert und geantwortet: Wir werden einige Dinge versuchen, vielleicht.
Im Wahlkampf kündigte Macron an, Schulklassen in Problembezirken zu verkleinern.
Als Pragmatiker begrüße ich es, wenn jemand bereit ist, neue Wege zu gehen. Damit die Bemühungen von Erfolg gekrönt sind, muss man sich aber erst einmal bei der Diagnose einig sein. Leider teilen die Entscheidungsträger in der Wirtschaft und Politik meine Diagnose noch nicht. In der Wirtschaftselite herrscht nach wie vor die Auffassung vor, dass der Reichtum der oberen Schichten gemäß dem Trickle-down-Effekt auch zu den unteren Schichten durchsickert. Diese Lehre geht auf den Ökonomen Adam Smith zurück. Aber in der Realität ist ein Durchsickern des Reichtums nicht sichtbar. Aus diesem Grund wird eine Ergänzung zum bestehenden Wirtschaftssystem benötigt. Konkret: Es müssen zusätzliche Wirtschaftsstandorte in der Peripherie geschaffen werden.
Aber wollen Sie leugnen, dass mit Macron eine neue Aufbruchstimmung in Frankreich entstanden ist?
Ja, aber nur in den Metropolenregionen. Das große Problem besteht heutzutage darin, dass die populistische Revolte in den USA und in Europa als ein irrationales Phänomen wahrgenommen wird. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Die Menschen am Rand der Gesellschaft nehmen eine durchaus rationale Einschätzung ihrer Lage vor, wenn sie sich für eine Stimmabgabe zugunsten von Populisten entscheiden. Man darf nicht vergessen, dass die Arbeiterklasse in Deutschland und Frankreich an die Globalisierung geglaubt und das Spiel mitgespielt hat. Nur hat ihr die Globalisierung keinen Schutz gebracht.
Kann Macron in seiner Amtszeit noch zum Vertreter der unteren Schichten werden?
Macron verkörpert einen Populismus von oben. Aber das Problem liegt darin, dass die Eliten heute die Bedürfnisse der unteren Schichten ignorieren. Wir brauchen ein radikales Umdenken bei denen, die gewissermaßen nur die Welt von oben sehen – ob sie nun Macron oder Merkel heißen. Das Frankreich von unten hat derzeit keine schlagkräftigen Fürsprecher. Der Front National ist keine seriöse Partei, ihr fehlen ernst zu nehmende Führungskräfte. Auch Intellektuelle werden nicht von ihr angezogen. Damit eine Demokratie funktioniert, werden aber mindestens zwei Lager benötigt.
Macrons Partei und der Front National ordnen sich außerhalb des traditionellen Links-rechts-Schemas ein. Kommt demnächst auch in Deutschland eine solche Neuordnung im Parteiensystem?
Davon gehe ich aus. Deutschland ist zwar besser in die Weltwirtschaft integriert als Frankreich. Deshalb geht es auch der Mittelschicht in Deutschland besser. Aber auch in Deutschland kann man beobachten, dass die Spaltung auf dem Arbeitsmarkt zwischen Gutverdienern und Geringverdienern immer größer wird. Wenn sich Parteien wie die CDU, die CSU und die SPD in der Krise befinden, dann ist das auch ein Ausdruck der Krise der Mittelschicht.
Was Guilluy über die Gentrifizierung in Berlin denkt
Wie wird in Frankreich die schwierige Berliner Regierungsbildung wahrgenommen?
In Deutschland kommt es mit zeitlicher Verzögerung zu einer Entwicklung, die wir schon seit etwa 15 Jahren aus Frankreich kennen. Mit der schleppenden Regierungsbildung in Deutschland kommt eines deutlich zum Ausdruck: Die Mittelschicht ist nicht mehr sozial homogen, und ein Teil der Unterschicht ist zur AfD abgewandert. Auf eine ähnliche Entwicklung in Frankreich hat Macron blitzartig reagiert und eine neue Mehrheit geschaffen. Seine Bewegung En Marche, die nun die Mehrheit stellt, funktioniert nicht mehr nach den Kriterien einer üblichen Partei. Macron hat losgelegt, ohne eine Bedienungsanleitung für seine Bewegung in der Hand zu haben. Er hatte begriffen, dass die alte Welt an ihr Ende gekommen ist.
Wenn man die Sozialstruktur in Deutschland in Betracht zieht, würde dann ein Bündnis zwischen Union und SPD die Zusammensetzung der Gesellschaft mit Gut- und Geringverdienern besser widerspiegeln als eine Jamaika-Koalition?
Eine Entscheidung für ein Bündnis aus Union und SPD wäre kurzfristig die rationalste Entscheidung. Für einen Umbruch, wie er in Frankreich stattgefunden hat, ist es in Deutschland vielleicht noch zu früh. Aber auch hier wird es dazu kommen.
Sie sagen, dass Wirtschaftswachstum vor allem in den Metropolen entsteht. Berlin bildet da die Ausnahme. Würde man Berlin und seine Bewohner aus der Statistik herausrechnen, wäre das deutsche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner nicht geringer, sondern höher. Wie erklären Sie das?
Zunächst einmal sind in Deutschland die Industriestandorte relativ gleichmäßig über die Landkarte verteilt. Und dann gibt es in Deutschland keinen Zentralismus wie in Frankreich, wo die Immobilienpreise in der Hauptstadt immer neue Rekordhöhen erreichen. Aber gerade die Gentrifizierung und die steigenden Mieten in Berlin zeigen doch, dass auch hier eine Entwicklung im Gange ist, die wir in Paris schon seit Längerem kennen.
Ein Blick auf die deutsche Karte zeigt auch, dass Ostdeutschland bei den Industriestandorten in weiten Teilen ein weißer Fleck ist. Lässt sich damit der Zulauf der AfD in Ostdeutschland erklären?
Das ist nicht der einzige Grund. Damit Populisten stark werden können, braucht es immer zwei Faktoren – wirtschaftliche und kulturelle. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Frankreich gibt es viele konservative Wähler, welche die Zuwanderung und den Islam kritisch sehen. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl haben sich diese Wähler im vergangenen Jahr für den Konservativen François Fillon entschieden. In der zweiten Runde haben sie nicht für den Front National gestimmt, was man ja angesichts der Islamfeindlichkeit des Front National hätte erwarten können. Sondern sie gaben Macron ihre Stimme. Warum? Weil diese Wähler zu den Gutverdienern zählten oder als Rentner wirtschaftlich abgesichert waren. Das Beispiel zeigt: In der Regel müssen eine wirtschaftliche und eine kulturelle Unsicherheit zusammenkommen, damit sich jemand für eine Partei wie den Front National oder für einen Politiker wie Trump entscheidet. In Ostdeutschland ist dies der Fall. Dort gibt es viele Wähler, die wegen ihrer prekären wirtschaftlichen Lage auch besonders heftig in der Migrationsdebatte reagieren – selbst dann, wenn es vor Ort gar keine Migranten gibt. Diese Wähler können nicht einfach umziehen, wenn sich die ethnische Zusammensetzung in ihrer Nachbarschaft ändert.
Es ist ungefähr ein Jahr her, dass Macron im Wahlkampf Merkels Flüchtlingspolitik gelobt hat. Wie bewerten Sie das?
Das war ein PR-Schachzug. Damit wollte Macron Wähler aus dem linken Lager an sich binden. Als Präsident schlägt Macron allerdings in der Flüchtlingspolitik einen schärferen Ton an als seine Vorgänger. Er übertrifft sogar seinen konservativen Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy. Macron hat verstanden, dass die Einwanderungsfrage für die westlichen Demokratien von entscheidender Bedeutung ist. Die Menschen in Europa haben Angst, in ihrem eigenen Land zur Minderheit zu werden.
Warum legen Sie sich als Linker mit einer großstädtischen linken Bohème an, die sich für ein multikulturelles Zusammenleben einsetzt?
Wenn der Multikulturalismus im täglichen Zusammenleben gefordert wird, ist häufig viel Scheinheiligkeit im Spiel. Diejenigen, die sich für Offenheit gegenüber anderen Kulturen einsetzen, haben häufig die Möglichkeit, um sich herum gewissermaßen eine unsichtbare Grenze zu ziehen. Man kann beispielsweise in einem multikulturellen Stadtviertel leben, aber dann trotzdem seine Kinder auf eine Privatschule schicken. Und wer in Paris eine Wohnung für 600.000 Euro kauft, stellt damit automatisch ein gewisses Umfeld sicher. Geringverdiener sind hingegen von Einwanderung ganz anders betroffen, weil sie im Zweifelsfall nicht einfach aus ihrem angestammten Viertel wegziehen können. Wer über ein Monatseinkommen von 1000 Euro verfügt, für den ist Multikulturalismus nicht dasselbe wie für jemanden, der 5000 oder 10.000 Euro verdient.
Sie fordern einen Einwanderungsstopp. Das kommt zwar einerseits der Position des Front National schon ziemlich nahe. Andererseits sind mehr als 60 Prozent der Franzosen der Auffassung, dass das Tempo bei der Einwanderung zu hoch ist.
Bei meiner Arbeit geht es sehr häufig um den sozialen Wohnungsbau. Dabei treffe ich sehr viele Kommunalpolitiker in den Banlieues oder in ländlichen Regionen. Die meisten von ihnen sind Linke. Sie alle erzählen mir, dass wir einen Stopp oder zumindest eine Begrenzung der Einwanderung brauchen, um die Gesellschaft wieder zu befrieden. Das ist auch mein Ziel. Es sind Leute wie Macron, die sich der Frage bemächtigen müssen, wie wir mit den Einwanderungsströmen umgehen. Das Thema darf man nicht dem Front National überlassen.
Das Gespräch führte Albrecht Meier.