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Einen Machtwechsel in Belarus fordern Demonstranten seit August.
© Justin Tallis/AFP

Machtkampf in Belarus: Lukaschenko geht zur Opposition ins Gefängnis

Im Belarus spricht Machthaber Lukaschenko in einer Haftanstalt des Geheimdienstes KGB mit inhaftierten Oppositionellen. Was hat er vor?

Dies ist wohl der ungewöhnlichste Runde Tisch, den es je gab: Ein Diktator begibt sich ins Gefängnis, um mit Oppositionellen zu reden, die er erst kürzlich hat einsperren lassen. So geschehen am Sonnabend in Minsk. Alexander Lukaschenko, der seit fast drei Jahrzehnten autokratisch über Belarus herrscht, setzte sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 seines Geheimdienstes KGB mit Widersachern zusammen, um sich viereinhalb Stunden lang über die Situation im Lande auszutauschen.

Ein dem Staatsfernsehen nahestehender Online-Kanal veröffentlichte ein Foto von dem Treffen. Lukaschenko gegenüber sitzt Viktor Babariko. Der 56-Jährige war Banker, bevor er sich im Frühjahr entschloss, bei der Präsidentenwahl anzutreten. Babariko schien gute Chancen zu haben, war er doch nicht irgendein Finanzexperte. Er leitete die Belgazprombank, eine Tochter des staatlich kontrollierten russischen Konzerns Gazprom.

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Das brachte Babariko den Ruf ein, der heimliche Kandidat des Kremls zu sein. Putin, so hieß es in zahlreichen Analysen, habe die unberechenbaren Eskapaden Lukaschenkos endlich satt. Doch der ließ Babariko gleich zu Beginn des Wahlkampfes in Juni einfach in Untersuchungshaft nehmen. Die Beschuldigungen lauten Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Bestechlichkeit. Moskau rührte keinen Finger für seinen vermeintlichen Kandidaten.

Putins Aufträge

Nun wird spekuliert, Putin habe seinen Mann, Babariko, bei seinem jüngsten Treffen mit Lukaschenko in Sotschi Mitte September wieder ins Spiel gebracht. Dort war dem Herrscher aus Minsk nicht nur ein Kredit von 1,5 Milliarden Euro offeriert, sondern auch die Zusicherung abgenötigt worden, es werde eine Verfassungsreform in Belarus geben. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ergänzte später, für diese Reform müsse es einen breiten gesellschaftlichen Dialog geben, auch mit der Opposition. Zu dieser rechnete Lawrow eine Frau ausdrücklich nicht: die ins Exil nach Litauen gezwungene Präsidentschaftskandidatin und mutmaßliche Wahlsiegerin Swetlana Tichanowskaja.

Sie wertete den Auftritt Lukaschenkos im Gefängnis als Resultat des nicht schwächer werdenden Drucks auf den Machthaber. Seit Anfang August demonstrieren die Belarussen gegen Lukaschenko, weil der sich als Sieger einer offensichtlich gefälschten Wahl ausgerufen hatte. Die EU erkennt das Ergebnis nicht an, westliche Staats- und Regierungschefs behandeln Tichanowskaja inzwischen faktisch wie eine Präsidentin.

300 Strafverfahren

„Eine Verfassung schreibt man nicht auf der Straße“, überbrachte Lukaschenko nun am Sonnabend als Botschaft an die Oppositionellen. Jetzt soll sie offenbar im Gefängnis geschrieben werden. Eine entscheidende Persönlichkeit des Protestes, die in Untersuchungshaft sitzt, war zu dem Treffen nicht eingeladen worden: Maria Kolesnikowa. Sie hatte im Frühjahr zu Babarikos Team gehört, sich nach dessen Festnahme mit Tichanowskaja verbündet und dann eine führende Rolle im Koordinierungsrat der Opposition gespielt. Offenbar versucht Lukaschenko nun, einen Keil zwischen Babariko und die beiden Frauen zu treiben, wird vermutet.

Am gleichen Tage, an dem Lukaschenko im Gefängnis war, veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation „Wesna“ („Frühling“) eine Statistik über das Vorgehen der belarussischen Justiz. Demnach wurden seit dem Beginn des Wahlkampfes im Mai rund 300 Strafverfahren gegen oppositionelle Kandidaten, Mitarbeiter ihrer Stäbe und Teilnehmer an den Protesten nach Bekanngabe der „Wahlergebnisse“ eingeleitet. Die Vorwürfe lauten: Störung der öffentlichen Ordnung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, versuchter Staatsstreich – und Steuerhinterziehung.

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