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In London gab es am Freitag nur ein Thema.
© AFP

Die Stimmung nach dem Brexit-Referendum: London ist nicht Großbritannien

In der britischen Hauptstadt gingen die meisten von einem Verbleib der Briten in Europa aus. Der Schock sitzt dafür nun umso tiefer.

Großbritannien ist in der EU eingeschlafen und draußen wieder aufgewacht. Aufgewacht zu einem schönen, sonnigen Tag und zu einem Nigel Farage, der seine Arme jubelnd hochreißt, und an dem David Cameron, wenn er überhaupt geschlafen hat, als Verlierer aufwacht. Cameron hat dieses Referendum gewollt und er hat es verloren. Er hat das Land ins Ungewisse geführt, und zu seinem Erbe gehört, dass fast die Hälfte des Landes an diesem Morgen die Augen am liebsten gar nicht erst öffnen will.

Auch London wollte in der EU aufwachen, und vielleicht hielt sich hier die Hoffnung, „Remain“ könnte vorne liegen, auch deshalb so lange. Noch am Mittwoch ist in der Stadt kaum ein EU-Gegner zu sehen, im bürgerlichen Wimbledon kämpfen Konservative und Grüne auf unterschiedlichen Straßenseiten gemeinsam für den Verbleib in der EU. Aus einem regnerischen Tag war langsam ein schwüler Tag geworden, und als auf dem Bahnhof von Wimbledon eine Durchsage für den Sonntagsfahrplan gemacht wird, wirkt es wie eine Beruhigung: Es geht einfach so weiter, auch nach dem Referendum werden die Züge fahren.

Auch bei der Referendums-Nacht in der London School of Economics sprach der Politikprofessor Tim Bale davon, dass es nicht in Camerons Natur läge, Rache zu nehmen. Es wurde darüber spekuliert, wie der Premier künftig Boris Johnson einbinden könnte, ohne dass der zu gefährlich würde. Als Innenminister, schlug einer aus dem Publikum vor, dann muss er sich mit dem Thema Einwanderung beschäftigen. Alle lachten. Vermutlich lachen sie jetzt nicht mehr, wenn sie die Twitter-Nachricht einer BBC-Journalisten lesen, dass Johnson bereits an diesem frühen Morgen den Sturz von Cameron organisiert.

Auch als Hanni Hüsch für die ARD den früheren Berlin-Korrespondenten der BBC, Rob Broomby, live vor dem nächtlichen Parlament interviewt, gehen viele von einem knappen Sieg für „Remain“ aus. In London, auf dem Trafalgar Square, hatte eine eindrucksvolle Trauerfeier für die ermordete Labour-Abgeordnete stattgefunden, auf der Abbey Road spielten Touristen wie immer den berühmten Platten-Cover der Beatles nach, und die Stadt wirkte unberührt von der Enttäuschung und Wut, die vor allem im Norden des Landes herrscht. London ist die Stadt der wirtschaftlichen Verflechtung, hier spielen Özil und Cesc Fàbregas Fußball.

Nur Broomby warnt davor, die erste Aussage des Umfrageinstituts YouGov zu ernst zu nehmen. Er erinnert an die Parlamentswahlen 1992, als die „exit polls“ Neil Kinnock zum Premier gemacht hatten. Die Wahl gewann dann doch John Major. YouGov hate um kurz nach 10 Uhr, nach dem Schließen der Wahllokale einen knappen Sieg von „Remain“ vorhergesagt.

Gibraltars Ergebnis macht Mut

Vor dem in der Dunkelheit angestrahlten Big Ben sprechen sie in der ARD über das britische Imperium, über die Vergangenheit und über Mentalitäten. Daneben ruft der ABC-Korrespondent Terry Moran ins Mikrofon, dass ein Ausstieg der Briten aus der EU „die fragile Weltwirtschaft in eine Rezession“ schicken könnte. Es waren die beiden Themen, das Geld und die Identität, die den langen, bitteren Streit um das Referendum bestimmt hatten. Es waren auch die Themen, mit denen die „Leave“-Kampagne punkten konnte. Sie hatte es geschafft, den Briten die Angst vor dem Ungewissen zu nehmen, mehr noch, das Ungewisse als Aufbruch und Selbstbehauptung darzustellen. Noch bei der großen Fernsehdebatte in der BBC am Dienstagabend hatte Boris Johnson den Pro-Europäern vorgeworfen, am „Projekt Angst“ zu arbeiten.

Um 11 Uhr 30 kommt das erste Ergebnis. Gibraltar spricht sich mit  96 Prozent für den Verbleib aus. Gibraltar ist unwichtig, aber das Ergebnis ist deutlicher als erwartet. Kurz darauf sagt Nigel Farage: „Was auch immer heute passiert, wir werden diesen Krieg gewinnen.“ Es klingt wie das Eingeständnis einer Niederlage. Dass Paddy Ashdown warnt, dass die Briefwähler möglicherweise die Entscheidung für „Leave“ bringen könnten, ist in diesem Moment unverständlich. Es spricht doch alles für einen Sieg von Cameron.

Frühestens um zwei Uhr, hieß es, würden sich die ersten Prognosen bestätigen lassen. Das Ergebnis von Newcastle läuft gegen Mitternacht ein. Die beiden Balken sind fast gleich hoch. Am Ende sind es 50,7 für die EU, 49,3 Prozent dagegen. Es ist, nach Ashdown, das zweite Indiz, dass sich etwas tut. Dass London am Ende auch als Verliererin dastehen könnte. In Newcastle hätte „Remain“ besser abschneiden müssen. „Remain“ braucht bis drei Uhr früh einen Vorsprung, um sich dann gegen die „Brexit“-Hochburgen behaupten zu können, hatte der „Guardian“ erklärt. Newcastle liefert einen minimalen Vorsprung.

Newcastle war der linke Haken für die Pro-Europäer: Labour hatte es offenbar nicht geschafft, die weißen Arbeiter aus dem Norden zu überzeugen. Jeremy Corbyn, selbst nur halbherzig bei der Sache der europäischen Wirtschaftspolitik, hatte sich fast versteckt bei diesem Referendum, doch für diese Zahlen wird er sich vor seiner Partei rechtfertigen müssen.

Das schnelle Ende

Viel früher als erwartet kommt dann das Ende. Doch das Ende kriecht erst langsam aus dem Bauch in den Kopf. Um Viertel nach 12 kommt Sunderland. Der schwarze Taxifahrer dreht das Radio lauter, als die Wahlleiterin das Ergebnis verkündet. Für „Remain“ haben 51.000 gestimmt. Stille. Für „Leave“, fährt sie fort, haben 82.000 gestimmt. Und der Jubel aus Sunderland dringt in das dunkle Londoner Taxi, das gerade am Trafalgar Square vorbeifährt.

Dort hatte der Witwer von Jo Cox am Mittwoch unter Tränen gesagt, dass seine Frau, die Labour-Abgeordnete für ihre Überzeugungen gestorben sei. Niemand muss die Zahlen von Sunderland in Prozente übersetzen, der klare Unterschied, der Jubel, es ist der Anfang vom Ende der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Sunderland ist die Wende. Gideon Rachman, Kommentator bei der „Financial Times“, twittert: „O Gott“.

Auf der LSE-Veranstaltung werden um kurz vor 1 Uhr die Getränke aufgefüllt. Beck’s und französischer Wein. Es sei noch zu früh, sagt Tony Travers, Politikprofessor und Direktor der LSE. Doch auch er wirkt plötzlich angeschlagen, als hätten ihm die jüngsten Ergebnisse die Luft geraubt. Die Parteichefs, sagt er, haben die Truppen nicht versammelt. Und auf Farage angesprochen, sagt Travers, dass man sich des Phänomens politisch annehmen müsse. Doch da hat Farage schon längst gewonnen. Sein Sieg muss nur noch ausgezählt werden.

In den BBC-Nachrichten um 1 Uhr wird ein Experte gebeten, den Sturz des Pfundes zu erklären. Die Märkte, sagt er, seien lange unentschieden gewesen. Nach dem Sunderland-Ergebnis „sind wir wieder in Panik-Stimmung“. Um 1 Uhr morgens sind zwei Prozent der Stimmen ausgezählt, erklärt der Nachrichtensprecher, „Leave“ führt knapp mit 51 Prozent. Doch in Wahrheit ist es da schon vorbei.

Für eine Mehrheit des Landes ist dieser Freitag ein schönerer Tag als gestern, weil für sie nun ein Traum in Erfüllung geht: Das Land wird aus der Europäischen Union austreten. Es ein historischer Tag, eine Sensation, ein politisches Erdbeben. Der Dax fällt bereits, David Cameron ist vor die Presse getreten und wird bis spätestens Oktober zurücktreten, Jeremy Corbyn gerät aus seiner eigenen Partei unter Beschuss. Nigel Farage, der es bei der vergangenen Parlamentswahl nicht ins Unterhaus geschafft hat, jubelt. Zu all dem wacht an diesem Morgen eine Hauptstadt auf, von der sich der Rest des Landes in dieser Nacht weit entfernt hat.  

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