Der Brexit und die Folgen: Die tiefste Krise für Nachkriegs-Europa
Es wäre gefährlich, das Ergebnis des Referendums in Großbritannien schönzureden. Vielmehr ist es ein herber Schlag für Europa - und für Deutschland. Ein Kommentar.
Das Volk, das den common sense verkörpert, den Sinn für Reales und Realitäten, entscheidet sich gegen Europa. Menschen, die von der Gegenwart verunsichert sind, votieren für eine noch unsicherere Zukunft. Die Verwirrung, die solche Beobachtungen verursachen, muss eine Zeitlang ausgehalten werden. Nichts wäre gefährlicher nach dem britischen Brexit-Referendum, als sich dessen Ergebnis schönzureden. Denn es ist ein Beben, das da geschah, weitere Beben sind nicht ausgeschlossen. Seit diesem 24. Juni 2016 steckt Nachkriegs-Europa in der tiefsten Krise seiner Existenz.
Doch schon melden sich die Beschwichtiger zu Wort. Großbritannien sei ja ohnehin nie wirklich mit der Europäischen Union verbunden gewesen, ein permanenter Störenfried, ein Sonderregelungs-Ergatter. Vielleicht werde jetzt vieles sogar einfacher in Brüssel. Außerdem ändere sich erstmal gar nichts. Lange wird Brüssel mit London über die Austrittsmodalitäten verhandeln, also: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Wer so redet, hat Europa nicht verstanden, das Projekt Europa. Getragen von dem Glauben an die Überzeugungskraft der immer größer werdenden Einheit. An die Überwindung von Grenzen und Barrieren. An den friedensstiftenden Zusammenschluss von einst verfeindeten Nationen. An die Geltung von Menschen- und Völkerrecht. An das Erbe der Aufklärung. Alledem haben die Briten mehrheitlich die kalte Schulter gezeigt. Von dieser Willensbekundung geht eine Erschütterung aus, die wohl jeder empfindet, der die Dynamik der europäischen Idee geteilt hat. Es nützt nichts, im Orkan zu stehen, und diesen zu einem Nieselregen umzudefinieren. Es bleibt ein Orkan, und alle sehen ihn.
Die Nachahmer profitieren
Nun setzt eine neue Dynamik ein, die die Zentrifugalkräfte Europas eher noch verstärkt. Vor dem Referendum warnten Europas Politiker, Unternehmer und Finanzfachleute eindringlich vor dem Brexit. Dessen Folgen wurden in drastischer Terminologie beschrieben - Arbeitslosigkeit, der Verfall des Pfunds, Rezession, Chaos. Nach dem Ergebnis indes müssen sowohl Großbritannien als auch Rest-Europa darauf bedacht sein, dass genau das nicht eintritt, was von ihnen prognostiziert worden war.
Wenn das Unheil aber nicht eintritt – wofür vieles spricht, abgesehen von einigen vorübergehenden Turbulenzen an den Finanzmärkten -, werden sich all jene bestätigt fühlen, die die Warnungen von Anfang an als apokalyptischen Alarmismus interpretiert hatten, als Schutzbehauptung Brüsseler Bürokraten, die nur ihre Macht zementieren wollen.
Von dieser Dynamik profitieren dann die Nachahmer, ob in Frankreich, Österreich, den Niederlanden oder sonstwo. Man kann sehr wohl gegen europäischen Zentralismus sein, werden sie sagen, ohne seinem Land damit zu schaden. Siehe die Briten. Was aber bleibt dann vom Projekt Europa? Aus der Identitätskrise wird eine Sinnkrise.
Die Rolle der Flüchtlingspolitik
Ein herber Schlag ist das britische Brexit-Votum vor diesem Hintergrund vor allem auch für Deutschland. Wegen seiner Geschichte, seiner geographischen Lage und der pazifistischen Grundstimmung kann Deutschland nationale Interessen am leichtesten innerhalb einer europäischen Einheit vertreten. Je brüchiger diese ist, desto blanker wird womöglich Berlins Egoismus künftig zu Tage treten – und das latente Misstrauen anderer Europäer gegenüber deutscher Macht und deutschem Einfluss manifest machen. Auch das – ein Teufelskreis.
Zu den Paradoxien des Brexit gehört, dass nicht zuletzt Angela Merkels Flüchtlingspolitik, verbunden mit dem EU-Türkei-Abkommen, in der Rhetorik von Ukip-Chef Nigel Farage eine wichtige Rolle spielte, vielleicht am Ende sogar den Ausschlag gab. Es könnte der Kollateralschaden einer nationalen Flüchtlingspolitik sein, die ohne Aussicht auf europäische Solidarität initiiert wurde.
Gegen Brüssel, gegen Eliten, gegen zu viele Ausländer und gegen den Status quo zu sein, ist – auch das lehrt der Brexit – mehrheitsfähig in Europa. Nach der Präsidentschaftswahl in Österreich ging noch ein erleichtertes Aufatmen durch den Kontinent. Ab jetzt ist es Ernst.