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Wahlkämpfer. Rached Ghannouchi, der Vorsitzende der Muslimbruderschaft, ist auf seinen stärksten Konkurrenten zugegangen, um eine stabile Regierung sicherzustellen. Auch die nächste Führung wird viele unpopuläre Entscheidungen treffen müssen.
© Mohamed Messara/AFP

Wahl in Tunesien: Letzte Hoffnung Konsens

In Tunesien steht am Sonntag die Parlamentswahl an. Islamisten und Säkulare buhlen um die Macht – das Land aber braucht nur eines: Reformen.

Keiner tourt so unermüdlich durch das Land wie Rached Ghannouchi. In der Küstenstadt Sfax zog er 15 000 Menschen an, in Sousse füllten seine Zuhörer mehr als einen Kilometer der breiten Hafenpromenade. In Gafsa im Landesinneren drängelten sich 10 000, um den Vorsitzenden von Ennahda zu hören, der tunesischen Muslimbruderschaft. Hier befinden sich die Phosphatgruben Tunesiens, der einstige Exportschlager des Landes. Heute ist ein Drittel arbeitslos, kein Unternehmen möchte sich hier ansiedeln und der Feinstaub ist allgegenwärtig. „Ihr seid eine Festung gewesen im Kampf gegen Tyrannei, Unterdrückung und Ungerechtigkeit“, sagt der 73-jährige Ghannouchi mit seiner randloser Brille und weißem Haar. Er schmeichelt der Menge. Die Stadt habe einen hohen Preis bezahlt, er verspricht: „Wir wollen, dass Gafsa seine Rechte zurückbekommt und genauso teilnimmt an Wohlstand und Entwicklung wie andere Regionen auch.

5,2 Millionen Wahlberechtigte

Tunesiens Wahlkampf geht diese Woche in die Schlussphase. Am Sonntag bestimmen 5,2 Millionen Wahlberechtigte das erste reguläre Parlament seit dem Arabischen Frühling 2011. Im November folgt dann das Votum für den ersten direkt gewählten demokratischen Präsidenten. Mehr als 13 000 Kandidaten auf 1320 Parteilisten bewerben sich für die 217 Mandate. Das Vorgängerplenum, vor drei Jahren gewählt, war verfassunggebende Versammlung und Übergangsparlament zugleich. Ennahda stellte mit 37 Prozent die stärkste Fraktion, regierte zusammen mit den Sozialdemokraten der Partei Ettakatol und den Liberalen der Partei Kongress für die Republik. Im Januar 2014 trat die Interimsregierung nach heftigen öffentlichen Protesten zurück, ausgelöst von Morden durch Islamisten an zwei linken Oppositionspolitikern. Das machte den Weg frei für ein Kabinett der Technokraten und für die Verabschiedung der postrevolutionären Verfassung im Konsens.

Islamisten haben an Rückhalt verloren

„Wir haben die Macht damals abgegeben, weil wir sicher sind, dass wir sie wiederbekommen“, sagte Rached Ghannouchi kürzlich in einem Interview. Doch das wird nun schwieriger. Umfragen zufolge hat Ennahda an Rückhalt verloren, ebenso wie ihre beiden ehemaligen Koalitionspartner. Gleichzeitig ist 2012 mit Nidaa Tounes eine neue Partei entstanden, die das Zeug hat, als stärkste Fraktion in die Volksvertretung einzuziehen und den Regierungschef zu stellen. Nidaa Tounes ist ein Sammelbecken säkularer Kräfte, aber auch alter Anhänger des Ben Ali Regimes. Geführt wird die Partei von dem 87-jährigen Beji Caid Essebsi, der in den ersten neun Monaten des Arabischen Frühlings als Übergangspremier fungierte, aber schon unter Staatsgründer Habib Bourguiba Minister war.

3000 Tunesier kämpfen für "Islamischen Staat"

Und so machte Rached Ghannouchi vergangene Woche überraschend diesem Hauptrivalen Avancen. „Tunesien braucht einen Konsens zwischen Islamisten und Säkularen, weil wir auch nach den Wahlen noch keine stabile Demokratie sein werden“, erklärte Ghannouchi. Denn auch die nächste Führung wird wohl viele unpopuläre Entscheidungen treffen müssen. Sie muss Subventionen kürzen, den überdimensionierten Staatsapparat reduzieren und eine Lösung für die Arbeitslosigkeit finden, die inzwischen bei mehr als 15 Prozent liegt. Zudem hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. 1500 verdächtige Militante wurden allein in diesem Jahr verhaftet. Mit 3000 Dschihadisten stellen Tunesier neben den Saudis das größte Ausländerkontingent im „Islamischen Staat“. Und so plädiert auch Beji Caid Essebsi für einen „möglichst breiten Konsens“, hofft jedoch auf eine rein säkulare Koalition. „Der fundamentale Unterschied zwischen uns und Ennahda ist“, erklärte er, „wir befinden uns in einem demokratischen Prozess, während die Islamisten ihre Weisungen einzig von Allah empfangen und nicht vom Volk.“

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