Steinmeier trifft Premier aus Nordafrika: Leuchtturm Tunesien?
Frank-Walter Steinmeiers Gast aus Nordafrika: Tunesiens amtierender Premier Medi Jomaa wirbt bei einem Auftritt in Berlin um deutsche Investoren für sein Land.
Die Welt ist eine Baustelle. Deutlich demonstriert wird dieses Faktum rings um die Repräsentanz der Bertelsmann-Stiftung in Berlin. Gegenüber vom Deutschen Historischen Museum liegt das Palais, in dem Liz Mohn vergangenen Donnerstag Außenminister Steinmeier und Tunesiens Premierminister Mehdi Jomaâ empfing. Hinter dem Palais Unter den Linden 1 schaufeln Bagger Erde aus einer gähnenden Baugrube, vor dem Palais verstellen Zäune vom U-Bahnbau den direkten Zugang zum Prachtboulevard.
Mehr als passend war das provisorische Ambiente für Frank-Walter Steinmeiers Treffen um die Mittagsstunde mit den Staatsbesuchern aus dem Maghreb. Neben dem Premier der tunesischen Übergangsregierung war auch Steinmeiers Counterpart, Außenminister Mongi Hamdi auf Einladung von Angela Merkel angereist. Im restlos vollen Saal drängten sich unter anderem Dirk Niebel und Rita Süssmuth neben Dutzenden Abgeordneten des Bundestages.
Für Steinmeier scheint Tunesiens wohltuender Versuch, zu einer Demokratie zu finden, die den Namen auch verdient, Anlass zum Aufatmen und sachtem Hoffen. Inmitten all der „pausenlosen Krisen und Konflikte“ im Nahen Osten und im Maghreb, versicherte der Minister, sei er froh, über ein Land sprechen zu können, das nach dem arabischen Frühling „ein ermutigendes Beispiel“ biete, und er zitierte auf Arabisch eine Zeile aus einem tunesischen Gedicht wider die Tyrannei.
Folgen des Arabischen Frühlings
Es sei gleichwohl Zeit, räumte der Diplomat ein, sich ehrlich die Folgen der „Welle des Zorns“ vor Augen zu halten, eine Revision des blauäugigen Optimismus vorzunehmen, den der arabische Aufstand vor drei Jahren zuerst ausgelöst hat. „Wir müssen uns fragen, ob unsere Analysen immer gestimmt haben“: Junge, freiheitsliebende Demokraten gegen alte, starre Autokraten - so einfach gehe die Formel nicht auf. Eine gerade noch gefeierte Opposition konnte bald dieselbe „Rücksichtslosigkeit und Brutalität“ aufweisen, wie das von ihr bekämpfte oder gestürzte Regime, stellte Steinmeier fest.
Der Druck, unter dem sich europäische Außenpolitik von der Ukraine bis Syrien und Irak derzeit befindet lässt sich kaum vorstellen. Dass sich dazu noch Sorge und Enttäuschung angesichts des Maghreb gesellt, der sich von Ägypten bis Syrien als heterogen, spannungsgeladen, gefährlich und konfliktreich zeigt, ist besonders bitter. In Tunesiens Premier Jomaâ und dessen Streben nach Inklusion aller Kräfte in seinem Land, will nicht nur der deutsche Außenminister einen Leuchtturm sehen.
Schule machen möge das tunesische Modell, halten möge die im Januar mit 90 Prozent Zustimmung verabschiedete tunesische Verfassung. Sie enthält eine klare Betonung von Menschenrechten und Toleranz, schreibt die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Meinungs- und Religionsfreiheit fest, selbst wenn sie vorschreibt, der Staatspräsident müsse muslimischen Glaubens sein. Erfreulich am heutigen Tunesien, lobte Steinmeier, sei „ein in jeder Hinsicht inklusiver, politischer Prozess.“
Erstarkende Islamisierung?
Ja, beteuerte Premier Jomaâ, in Tunesien habe man nach den radikalen Veränderungen verstanden, dass kein funktionierender Staat zu machen sei, unter Ausschluss der Anderen, und dass eine Zivilgesellschaft auf universellen Werten fußen müsse. Wer an der der Regierung ist, soll das heißen, der hat nicht automatisch Carte Blanche zum Terrorisieren jeglicher Opposition - kein weit verbreiteter Gedanke in der Region. Wie sehr er sich in Tunesien durchgesetzt hat, wird sich auch bei den bald anstehenden Wahlen zeigen.
Bisher haben Islamisten, etwa der Ennahda-Partei, freiwillig auf Teile von Macht und Privilegien verzichtet, und das Prinzip der Inklusion teils mitgetragen. „Oh Wunder!“ merkte Steinmeier dazu an. Westliche Beobachter sehen allerdings inzwischen zahlreiche Anzeichen einer erstarkenden Islamisierung. Steinmeier selber beklagte in seiner Rede den Waffenschmuggel über die libysche Grenze nach Tunesien. Solange aus Gaddafis Armeedepots Waffen in das fragile Gewächshaus der Demokratie gelangen, wächst die Gefahr, dass Radikale sich einschlägig ausrüsten. Auch darum will Tunesien Europas Unterstützung zur Sicherung der Grenzen.
Vorbild für andere Staaten
Im parteilosen Mehdi Jomaâ, der ein so elegantes wie eloquentes Französisch spricht, und seine Position als erfolgreicher Geschäftsmann in Frankreich aufgab, um Tunesien zu dienen, sieht nicht nur Steinmeier einen singulären Boten der Zukunft für die Region. Doch deren aktuelle, politische Entwicklung wird nicht allein Jomaâ erschüttern. Er kam ja in erster Linie nach Deutschland, um für Investoren zu werben. Sein Land mit rund 11 Millionen Einwohnern exportiert 80 Prozent seiner Produkte - wie Olivenöl, Getreide, Salz, Tomaten, Zitrusfrüchte, Datteln, Mandeln, Rindfleisch, Milchprodukte, Erdöl, Phosphate, Eisenerz, Blei, Zink - nach Europa. Aus Europa bezieht Tunesien gut 70 Prozent seiner Importe, aus Europa kamen und kommen die meisten Touristen. Im Oktober, versprach Steinmeier, werde eine hochkarätig besetzte Delegation mit deutschen Unternehmern Tunis besuchen.
Rita Süssmuth stellte dem Premier die entscheidende Frage, wie es überhaupt zum moderaten Modellfall Tunesien kam. Ohne Nachbarstaaten herabzusetzen benannte Jomaâ als das Geheimnis der positiven tunesischen Sonderentwicklung die lange Tradition einer Zivilgesellschaft und die hohe Investition in Bildung. Dem Politiker war nur zwischen den Zeilen anzuhören, wie sehr er sich einen ähnlichen Weg für die Nachbarn in der Region wünscht. Kritisch erkundigte sich Öczan Mutlu, grüner Abgeordneter des Bundestags, nach Jomaâs Einschätzung der türkischen AKP. Auch die sei als Hoffnungsträger gestartet, und trage heute totalitäre Züge.
Selbstverständlich, versetzte Jomaâ wolle er „andere Länder nicht belehren“ („pas maîtriser“). Er glaube einfach, die demokratische Zivilgesellschaft in seinem Land habe genug Kraft, um wachsam zu bleiben, „vigilante“. „Wachsam“, das Wort fügte er gleich viermal ein in seine Antwort auf die heikle Frage. Jetzt wird es, in naher Zukunft, auf den Mut und die Risikobereitschaft beherzter Investoren ankommen, der kleinen, neuen wachsamen Demokratie beizustehen. Die bisherige etablierte „Transformationspartnerschaft“ mit Tunesien, zu der an die hundert kleine Projekte zur Effizienz der Verwaltung, Demokratisierung der Medien und Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen zählen, reicht da nirgends hin. Millionen von Tunesiens jungen, gut ausgebildeten Leuten brauchen vor allem eines: Arbeit, Einkommen, Auskommen.