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Amel Karboul (41 Jahre) ist Tunesiens Tourismusministerin
© Horst Schwartz

Tunesische Tourismusministerin: "Die Risikobereitschaft brauchen wir jetzt"

Drei Jahre nach dem Arabischen Frühling wählt Tunesien am Sonntag sein erstes reguläres Parlament. Im Interview spricht die Tourismusministerin Amel Karboul über die Situation vor Ort und ihre "Start-up-Demokratie".

Frau Karboul , am 26. Oktober wird in Tunesien ein Parlament und am 23. November ein Präsident gewählt. Wie ist die Stimmung vor den Wahlen?

Viel Aufregung, viele Debatten, viele Parteiprogramme, die erklärt werden. Die Debatten sind tief und demokratisch. Jeder verteidigt sein Programm, seine Vision von Tunesien. Wir sind in der Demokratie angekommen und wir leben  diesen Moment durch diese Wahlen.

Was hat sich im Land nach Verabschiedung der neuen Verfassung  geändert?

Die Verfassung wurde am 26. Januar mit 92 Prozent verabschiedet und am 10. Februar 2014 verkündet. Der rechtliche, republikanische Rahmen ist definiert und beibehalten. Er respektiert unsere Geschichte, unsere Ursprünge und unsere Ambitionen. Die Gleichheit zwischen Mann und Frau ist festgeschrieben. Diese Gleichheit muss auch in den verschiedenen Strukturen der Verwaltung respektiert werden.

Wie ist die Stimmung unter den jungen Leuten, die die Revolution getragen haben, sich aber kaum im Parteienspektrum wieder finden?

Es gibt eine starke Zivilgesellschaft in Tunesien. Und die Jugend spielt eine wesentliche Rolle. Die Revolution hat viele Initiativen hervorgebracht, was man an den vielen neuen Parteien sehen kann. Wir haben in Tunesien auch die Piratenpartei, die Sie auch in Deutschland haben. Unsere Jugend ist aktiv, voller Forderungen für ihr Land, für sich selbst und für die Gesellschaft. Und sie haben Recht.

Wie hoch schätzen Sie die Wahlbeteiligung ein?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. 5,3 Millionen Wähler sind eingeschrieben.

Werden die Menschen in großer Zahl wählen gehen, auch wenn sich die wirtschaftliche Besserung Ihrer Lage noch nicht eingestellt hat?

Wissen Sie, am Freitag, den 14. Januar 2011 wurde  uns  um 18 Uhr die Flucht des ehemaligen Diktators verkündet. Am Montag, den 17, Januar 2011 um 8 Uhr funktionierte die öffentliche Verwaltung wieder, die Angestellten haben gearbeitet. 72 Stunden danach hat sich das Land wieder an die Arbeit gemacht -  für eine bessere Zukunft, für eine wahre Aufteilung der Reichtümer, für soziale und regionale Gerechtigkeit. Wir sind noch nicht ganz dort angekommen.

Tunesiens Armee kämpft an den Grenzen zu Libyen und Algerien gegen islamistische Terroristen. Wie schätzen Sie die Sicherheitslage Ihres Landes vor den Wahlen ein?

Kein Tourist wurde (seit der Revolution) verletzt. Wir unterscheiden uns nicht von anderen Ländern, auch nicht von westlichen Ländern, was die Erschütterungen, die die Welt zurzeit erlebt, betrifft.

Es heißt immer, dass unter den Kämpfern des IS viele Tunesier seien.

Wie leider sehr viele Länder sind wir mit diesem Phänomen konfrontiert. Es ist unter Kontrolle. Aber man muss sich auch verstärkt Gedanken darüber machen, was junge Menschen dazu bringt, diesen Obskurantismus zu  leben und zu sterben, indem Sie in den Dschihad ziehen oder auch in ein Boot steigen und ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gehen.  Man muss nach den Gründen fragen. Die liegen in Zeiten der Diktatur verankert.

Glaubt die Mehrheit der Muslime in Tunesien, dass der IS den Islam diskreditiert?

Die Mehrheit weiß, dass der IS überhaupt nichts mit dem Islam zu tun hat. Nicht nur der Islam wird diskreditiert, sondern der Mensch an sich. Aus diesem Grund muss jeder Mensch, ob er nun Moslem ist oder nicht, deren Taten verurteilen. Der Islam hat nichts mit diesen Leuten zu tun. Sie sind uns komplett fremd.

Wie kann in einem islamisch geprägten Staat die Trennung von Politik und Religion funktionieren?

Das steht nicht in Widerspruch  zu Fortschritt und Moderne. Unsere Institutionen funktionieren laizistisch. Dass diese sich auch auf muslimische Werte beziehen,  ist durchaus kompatibel.

Man hört immer wieder, dass die Tunesier mit der Arbeit der Übergangsregierung sehr zufrieden sind. Können Sie sich eine weitere Regierung von Parteilosen vorstellen?

Demokratische Menschen möchten, dass die nächste Regierung von der Mehrheitspartei  gewählt wird. Es ist klar, dass diese Regierung aus Technokraten bestehen muss. Sie werden wahrscheinlich  innerhalb der Mehrheitspartei nach den Ergebnissen gewählt. Vielleicht werden diese Leute unabhängige Persönlichkeiten auswählen. Aber die Expertise schließt nicht aus, dass man Mitglied einer Partei ist.

Was müssen die Europäer tun, um Ihre Start-up-Demokratie zu unterstützen?

Das Wichtigste ist, nicht warten, bis Tunesien perfekt ist, um dort zu investieren.  Man investiert am Anfang in ein Start-up, weil man daran glaubt. Der Erfolg Deutschlands und Europas hängt auch ab vom Erfolg Tunesiens. Die Risikobereitschaft brauchen wir jetzt.

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