Terror in London: Lernen, mit dem Ausnahmezustand zu leben
Anschläge in Großbritannien, Alarm in Deutschland und Panik in Turin. In Europa herrscht ein Klima der Angst. Wie die Länder damit umgehen.
- Johannes Nedo
- Ulrike Scheffer
- Maria Fiedler
- Angie Pohlers
In London fahren Attentäter mit einem Transporter in eine Gruppe Fußgänger, attackieren später Besucher in Restaurants und Bars – sieben Menschen sterben. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) reklamiert die Tat für sich.
In Turin kommt es beim Public Viewing des Champions-League-Finales zu einer Massenpanik, ausgelöst durch die Angst vor einem vermeintlichen Terroranschlag. 1527 Menschen werden verletzt.
Das Festival „Rock am Ring“ wird wegen Terrorverdachts unterbrochen – Zehntausende müssen das Gelände verlassen. Der Verdacht erhärtet sich nicht.
In Europa herrscht ein Klima der Angst. Immer wieder erschüttern Schreckensnachrichten den Kontinent. Weitere Anschläge sollen um jeden Preis vermieden werden. Doch am Ende braucht es diese nicht einmal, sondern nur die Angst der Masse, um vielen Menschen Schaden zuzufügen. Das ist nach London, Turin und „Rock am Ring“ die erschreckende Erkenntnis.
Wie gehen die Menschen mit der Angst um?
Die jüngsten Terroranschläge haben die Briten tief getroffen. Doch vor allem im Netz zeigt sich, dass man auf der Insel auf die Bedrohung mit dem trockenen britischen Humor reagiert. Auch der Umgang der „Rock am Ring“-Besucher mit der möglichen Terrorbedrohung war besonnen: Sie verließen ruhig das Festivalgelände, stimmten dabei „You Never Walk Alone“-Gesänge an und skandierten „Scheiß Terror“. „Im Prinzip ist das genau die trotzige Haltung, die unsere Gesellschaft jetzt braucht“, sagte der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius dem Tagesspiegel. Während des Bundestagswahlkampfes wird er den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz beim Thema innere Sicherheit unterstützen. Pistorius sieht es als „die einzig richtige Antwort auf diese Taten , unser Leben genauso weiter zu leben wie zuvor“.
Wie reagiert Großbritannien auf den neuerlichen Anschlag?
Nach drei schweren Terroranschlägen in kurzer Folge will Premierministerin Theresa May den radikalen Islamismus aus der britischen Gesellschaft „ausrotten“. Die Regierungschefin unterstützt die „Shoot to Kill“-Taktik der Polizei, also gezielte Schüsse mit Tötungsabsicht auf Angreifer. May plant unter anderem eine schärfere Überwachung von Internet und Messengerdiensten. Auch längere Haftstrafen gehören zum Paket.
Muss Deutschland nachziehen?
Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach ist überzeugt, dass Deutschland seine Hausaufgaben gemacht hat. Seit den Anschlägen im November 2015 in Paris seien Sicherheitsgesetze verschärft und die Befugnisse der Sicherheitsbehörden ausgeweitet worden. Nachholbedarf sieht er dagegen weiter beim Datenaustausch innerhalb der EU. „Nicht alle Staaten beteiligen sich daran so wie es wünschenswert wäre.“ Auch Pistorius glaubt nicht, dass Deutschland legislativ nachrüsten muss: „Ich kann nach den Ereignissen in Deutschland und London nicht erkennen, dass es bei uns an den Gesetzen hapert.“ Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte gefordert, der Verfassungsschutz solle auch Minderjährige im islamistischen Umfeld beobachten.
Wie hoch ist die Terrorgefahr hierzulande?
Laut Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist die Terrorgefahr in Deutschland unverändert hoch: „Wir werden wohl auf lange Zeit mit dem Terror leben müssen.“ Auch Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hatte Anfang Mai vor neuen Anschlägen gewarnt. Laufend würden Terrorverdächtige festgenommen. „Die Bürger müssen sich mental darauf einstellen, dass ein Anschlag passieren kann“, sagte Maaßen.
Wie viele Gefährder und gewaltbereite Islamisten gibt es?
In Deutschland zählt das Bundeskriminalamt (BKA) derzeit etwa 670 islamistische Gefährder – also Menschen, denen ein Anschlag zugetraut wird. Die Zahl steigt kontinuierlich. Ende Januar ging das BKA noch von einer Zahl von 570 aus. Der Verfassungsschutz hat zusätzlich dazu noch weitere relevante Personen im Visier, etwa solche, die Gefährdern nahe stehen. Sorgen bereitet Sicherheitsexperten außerdem die gewachsene Salafisten-Szene, die der Verfassungsschutz mittlerweile auf 10000 Mitglieder beziffert.
Dürfen Gefährder abgeschoben werden?
Nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes dürfen Ausländer, die nachweisbar eine besondere Gefahr für die Bundesrepublik darstellen, sofort abgeschoben werden. Niedersachsen brachte diesen Paragrafen in diesem Jahr zur Anwendung, während andere Bundesländer davor lange zurückschreckten. Pistorius geht aber davon aus, dass seine Amtskollegen nun nachziehen. „Die Hürden, islamistische Gefährder mit ausländischem Pass abzuschieben, sind nicht so hoch, wie wir angenommen hatten.“ Klar müsse allerdings sein: Es könnten nur jene Gefährder abgeschoben werden, die über einen ausländischen Pass verfügen. Rund zwei Drittel der Gefährder sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums aber deutsche Staatsbürger oder andere EU-Bürger.
Können hunderte Gefährder lückenlos überwacht werden?
Bei weitem werden nicht alle Gefährder rund um die Uhr bewacht. „Rechtlich sind einem solchen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte enge Grenzen gesetzt“, sagte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow. Für eine 24-Stunden-Observation einer Person würden zudem 24 Beamte benötigt. Es fehlten also schlicht Kapazitäten. Auch deshalb seien die jüngsten Gesetzesverschärfungen zum Umgang mit Gefährdern, wie etwa der Einsatz der elektronischen Fußfesseln, wichtig und richtig, sagte Malchow. Pistorius betonte: „Es gibt vor dieser Art von zu allem entschlossenen fanatischen Tätern keinen absoluten Schutz. Viele Täter scheinen polizeibekannt gewesen zu sein und konnten trotzdem so agieren.“
Hat sich die Strategie der Terroristen in der jüngsten Zeit geändert?
Neue Tatmuster machen es Ermittlern fast unmöglich, Terroristen frühzeitig auf die Spur zu kommen. Wer Alltagsgegenstände wie Messer oder Fahrzeuge als Waffe einsetzt, muss keine aufwändigen Vorbereitungen betreiben. Ein Bombenbauer hingegen fällt oft schon vor der Tat auf, wenn er etwa Chemikalien kauft. Der Polizei bleibt nur, den öffentlichen Raum so zu sichern, dass Attentäter ihre Anschlagspläne nicht umsetzen können. Deshalb werden in deutschen Städten verstärkt Poller aufgestellt, um Einkaufszonen oder Volksfeste zu schützen. Doch der Schutz hat Grenzen. „Wenn Attentäter wie jetzt in London mitten im Alltagsgeschehen zuschlagen, kann man das aber kaum verhindern“, sagte Gewerkschaftschef Malchow.
Wie gut ist die Polizei in Deutschland gewappnet?
Eine stärkere Polizeipräsenz auf den Straßen könne helfen, Täter abzuschrecken, sagte Malchow. Allerdings gebe es nicht genug Kräfte. 20 Millionen Überstunden schöben Bundes- und Landespolizisten vor sich her; durch Pensionierungswellen drohten weitere Personalengpässe. Dabei fehlen laut Malchow schon jetzt rund 20000 Polizisten. Aufstockungen sind zwar beschlossen, es wird aber vier Jahre dauern, bis die neu angeworbenen Beamtinnen und Beamten auf der Straße im Einsatz sind. Auch bei der Ausrüstung mangelt es nach wie vor. Nicht jeder Polizist verfüge über eine eigene Schutzweste oder über einen Helm, der auch Gewehrfeuer standhalte, sagte der GdP-Vorsitzende.
Wie wird bei Sportereignissen auf die aktuelle Sicherheitslage reagiert?
Große Endspiele und Turniere sind für die Polizei und die Sicherheitsbehörden immer eine besondere Herausforderung. In Turin waren die Behörden am Samstagabend offenbar überfordert und schlecht vorbereitet auf eine durch den Fußball aufgeheizte Situation. Und so steht nach der Massenpanik vor allem die italienische Kommune in der Kritik. Ihr wird vorgeworfen, dass Glasflaschen auf dem Platz verkauft oder mitgebracht wurden. Viele der Opfer hatten Schnittverletzungen. Ermittler prüfen zudem, ob ein Knallkörper gezündet worden ist und die Menschen daraufhin die Flucht ergriffen. Normalerweise operiert die Polizei mit strengen Sicherheitskontrollen vor den Spielstätten. Beim Champions- League-Finale in Cardiff funktionierte das auch hervorragend.
Wie ist die Lage in Berlin?
Erst vor einer Woche legte Rot-Rot-Grün einen Anti-Terror-Plan vor, der mehr Prävention, ein Ausbildungszentrum in Brandenburg und bessere Opferbetreuung vorsieht. Der Opposition geht das nicht weit und nicht schnell genug. „Bis neue mobilen Einsatzkommandos bereitstehen, vergehen drei Jahre“, sagte Burkhard Dregger, innenpolitischer Sprecher der Berliner CDU-Fraktion.
Für den Übergang seien Polizisten nötig, die kurzfristig eine spezielle Anti-Terror-Ausbildung bekommen. Karsten Woldeit, bei der AfD zuständig für Sicherheit, forderte Racial Profiling bei Großveranstaltungen – wie in der letzten Kölner Silvesternacht als Reaktion auf die Übergriffe im Vorjahr.
Derweil gab es bei den Berliner Großveranstaltungen am Wochenende keine größeren Zwischenfälle. Nach der Attacke in London sei der Sicherheitsplan für den Karneval der Kulturen noch einmal überprüft worden, sagte ein Polizeisprecher. Es habe aber keinen Anlass gegeben, das bestehende Konzept mit 850 eingesetzten Beamten zu ändern. Auch beim Turnfest blieb alles ruhig. Am nächsten Wochenende stehen mit der Formel E, dem Umweltfestival am Brandenburger Tor und der ADFC Sternfahrt die nächsten Großveranstaltung an.