Nach dem Anschlag in Berlin: Lässt sich Trauer nachholen?
Berlin und der Bundestag verabreden Wochen nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz Gesten offizieller Anteilnahme. Zu wenig? Zu karg? Ein Kommentar.
Auf den Schock vom Breitscheidplatz folgten im Berliner Alltag oft kleine Erzählfragmente. „Kurz davor war meine Cousine auf dem Weihnachtsmarkt!“ „Wir wären an dem Abend beinahe hingegangen, uns war nur zu kalt.“ Die Aussagen suggerierten bedrohliche Nähe ebenso wie staunendes Entronnensein.
Kollektiv getrauert wurde, wenn, dann still. Kollektiv gefahndet wurde nach dem Täter und nach Untätigen, den säumigen Leuten, denen er durch die Lappen gegangen war. Der Tenor war: „Wir werden nicht genug geschützt!“ Außer der spontanen, ökumenischen Gedenkfeier in der Gedächtniskirche gab es kaum Kundgebungen, keine Autokorsos mit Trauerflor. In den Kliniken waren Hunderte im Einsatz, die Verletzten zu retten, während das Weihnachtsgeschäft weiterlief. Nach Neujahr dann beklagten einige Angehörige den Mangel an staatlichem Augenmerk. In Polen gab es eine große Zeremonie für den ermordeten Lastwagenfahrer.
Und in Berlin? Nachgeholt werden soll das Trauern heute, wenn die Anwesenden im Berliner Abgeordnetenhaus eine Minute lang schweigen, und am 19. Januar mit einem Gedenkmoment im Bundestag, drei beziehungsweise vier Wochen nach dem Massaker im Zentrum der Hauptstadt. Zu spät? Zu wenig? Zu karg?
Häufig wurde den Medien auf ihrer Jagd nach „Betroffenen“ Indiskretion, Taktlosigkeit und Sensationswut vorgeworfen, und wenn Politiker erklären, sie seien „in Gedanken bei den Opfern“, erinnert das oft an vorgestanzte Beileidskarten. Justus Münster, der als Pfarrer die Berliner Notfallseelsorge koordiniert, begrüßt die Zurückhaltung der Medien in Bezug auf die Opfer, und spricht zugleich vom Wunsch nach Aufmerksamkeit für sie „in Würde“. Was nun redet sich die Gesellschaft ein? Was fehlt? Sähen sich Überlebende dieses Massakers tatsächlich gern mit Gipsverband neben einem Politiker an der Bettkante abgelichtet?
Wer welche Reaktion auf das Traumatische zeigt, ist unterschiedlich
Am Ende eines Jahres gekennzeichnet durch eine Inflation von Hassworten, im dunkelsten Winter, zwischen Kaufrausch und Familienstress, kurz vor den Schulferien, vor Weihnachten und Silvester brach ein traumatisches Ereignis in die Gesellschaft ein. Als „Trauma“ wird die normale Reaktion auf unnormale Ereignisse bezeichnet. Das ist die kürzeste, haltbare Definition. Kaum etwas ist unnormaler, als in vertrauter Umgebung brutal attackiert zu werden. Für diejenigen am Breitscheidplatz ist das ein primäres, für viele andere potenziell ein sekundäres Trauma. Welche normale Reaktion jemand darauf entwickelt, das ist enorm unterschiedlich. Es hängt von tausenderlei Umständen ab, sozialen und individuellen.
Auch ob für Trost und Trauer richtige, also aufrichtige Worte gesprochen werden hängt von sehr vielem ab. Besonders bei Politikern, denen unter Stress und Druck Emotionen abverlangt werden. Fast exakt vier Jahre vor dem Berliner Anschlag, Mitte Dezember 2012, sprach US-Präsident Obama über die 20 von einem Amokläufer ermordeten Erstklässler der Sandy-Hook-Schule in Connecticut. Er sprach klar, auch im Zorn über die Waffenlobby.
In einem Moment seiner Rede überwältigte ihn die Erschütterung, er musste sich Tränen aus den Augen reiben, kurz, und sich wieder sammeln. Die Amerikaner haben mitgeweint – der Moment stimmte. Er bleibt in Erinnerung, kostbarer, als ungezählte angeordnete Schweigeminuten von Abgeordneten. Gewiss, solche Rituale sind auch wichtig. Im Kern geht es aber beim Bewältigen von Traumata um mehr als das.
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