Bundeswehr-Abzug aus Afghanistan: Lässt Deutschland seine Dolmetscher im Stich?
Um Bundeswehr-Ortskräfte nicht der Rache der Taliban auszusetzen, sollen sie nach Deutschland ausreisen dürfen. Doch das Angebot gilt gar nicht für alle.
Die Ankündigungen waren vollmundig und klangen nach „Wir kümmern uns“. Keiner der Dolmetscher, Handwerker oder Fahrer, die die Arbeit der Deutschen in Afghanistan oft erst möglich gemacht haben, solle zurückbleiben müssen und der Rache der Taliban überlassen werden.
Mit Blick auf den nun doch überstürzten Abzug bis Anfang Juli hatte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ausdrücklich erklärt, sie „empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen.“
Das Thema sei ihr auch persönlich „sehr wichtig” und treibe sie um. Sie werde sich um ein pragmatisches Verfahren kümmern. Zu den Mitarbeitern gehörten beispielsweise Finanzmanager, politische Berater, Fahrer, Wachen und Reinigungskräfte.
Die Betroffenen sollten versorgt werden, bevor der letzte deutsche Soldat das Land verlasse. „Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft haben und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben“, sagte die Ministerin. Innenminister Horst Seehofer (CSU) wolle das ebenso unterstützen wie das Außenamt, sagte die Ministerin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Was ist mit denen, die vor 2019 für die Deutschen dolmetschten?
Doch ein kleines, aber wichtiges Detail wurde dabei nicht erwähnt. Wurde es vergessen? Gar mit Absicht? Die 2012 zwischen Auswärtigem Amt, Verteidigungs-, Innen- sowie Entwicklungsministerium abgesprochene Ortskräfteregelung gilt nur bis zu zwei Jahre rückwirkend - also maximal für Afghanen, die bis 2019 einen Arbeitsvertrag mit den Deutschen hatten.
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Diejenigen, deren Verträge vorher ausliefen, haben keinen Anspruch auf dieses Verfahren. Sollten sich beispielsweise zivile Ex-Mitarbeiter nach Ende der „Isaf”-Kampf-Mission 2014 während der nun zu Ende gehenden Ausbildungs- und Beratungsmission „Resolute Support” wegen der Anwesenheit ausländischer Truppen noch sicher gefühlt haben, jetzt aber kalte Füße bekommen, haben sie das Nachsehen. Für sie gilt die Ortskräfteregelung nicht.
Alle Mitarbeiter seien bei ihrem Ausscheiden auf das Zeitlimit hingewiesen worden, heißt es aus dem AA. Die Verteidigungsministerin hatte allerdings sogar Afghanen erwähnt, die „mitgekämpft” haben.
Kein Ministerium will die Zwei-Jahres-Regelung ändern
Aber die Begrenzung auf zwei Jahre soll sich nach Auskunft der Ministerien Verteidigung, Außen und Innen auch jetzt gar nicht ändern. Je nachdem, wen man im Bendler-Block erwischt, gibt es eine sehr kernige Antwort: „Die hatten ja sieben Jahre Zeit.“
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es diplomatischer, dass derzeit „kreative“ Möglichkeiten für Ortskräfte ausgelotet würden. Allerdings bleibt die Zwei-Jahres-Regel auch davon unberührt. Es habe es „von keinem der beteiligten Ressorts den Wunsch“ gegeben, die Zwei-Jahres-Regel zu ändern, sagte Außen-Sprecher Christofer Burger dem Tagesspiegel am Freitag auf ausdrückliche Nachfrage.
Einer seiner Kollegen aus dem Innenministerium (BMI) sagte dem Tagesspiegel am Abend: „Das Verfahren hat sich aus hiesiger Sicht bewährt.“ Das mit dieser Frist versehene besondere Aufnahmeverfahren für Ortskräfte beruhe darauf, „dass die individuelle Gefährdung der Person gerade aufgrund ihrer vorherigen Tätigkeit für ein deutsches Ressort vorliegen kann“, so der Sprecher aus dem Hause Seehofer. Und: „Aufgrund dieses erforderlichen Zusammenhangs ist eine zeitliche Begrenzung sachgerecht.“ Nach §22 Aufenthaltsgesetz könne „in Einzelfällen“ eine Aufnahme jenseits der Zwei-Jahres-Frist „geprüft werden“, so das BMI.
In diesem Paragraphen heißt es, „einem Ausländer kann aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.“ Dafür muss das Innenministerium „oder die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik“ die Aufnahme erklärt haben. Es gäbe also in der aktuellen Situation durchaus eine rechtliche Grundlage für eine pragmatische Lösung auch für andere frühere Mitarbeiter.
Alarmbrief von Generälen und Afghanistankennern
Am Freitag veröffentlichten hochrangige ehemalige Kommandeure, darunter mehrere Ex-Chefs des Einsatzführungskommandos, frühere Generalinspekteure, Diplomaten und Afghanistankenner wie der Ex-Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei und Analyst Thomas Ruttig einen offenen Alarmbrief.
Deutschland müsse allen ehemaligen Helfern ein Ausreise-Angebot machen, da die Taliban sie als „Kollaborateure“ der Ungläubigen ansähen und auch nach vielen Jahren noch Rache nehmen könnten. Zu dem Brief wollte am Freitag niemand aus der Bundesregierung Stellung nehmen.
Zwei Ausreisebüros für Ortskräfte öffnen am 1. Juni
Insgesamt sind nach Angaben des Innenministeriums bisher 793 ehemalige Ortskräfte mit ihren Familien nach Deutschland gekommen, insgesamt 2581 Personen. Zwei der Ortskräfte sind demnach mit ihren Familien wieder in die Heimat zurückgekehrt.
Für die rund 300 aktuellen Mitarbeiter und die anderen aus den vergangenen zwei Jahren, für die die Ortskräfte-Regelung gilt, plant die Regierung ein Schnellverfahren. Zusammen mit der Bundeswehr soll zum 1. Juni für sie je ein Ausreisebüro in Kabul und Masar-i-Sharif eingerichtet werden, um ihre Anträge rasch zu bearbeiten.
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Über ihren deutschen Arbeitgeber können Betroffene für sich und ihre direkte Familie (Ehepartner und minderjährige Kinder) eine Gefährdung anzeigen. Diese gelte jetzt unbürokratisch für sie als gegeben. Ihre Daten inklusive biometrischer Erkennungsmerkmale gehen dann in die Sicherheitsüberprüfung. Gibt es grünes Licht, bekommen die Ortskräfte Visa. Ist es erteilt, gilt es demnach nach Ende der Beschäftigung noch sechs weitere Monate, so der Sprecher des Innenministeriums.
Um mit dem Visum nach Deutschland zu kommen, sollen die Ortskräfte der Planung zufolge für sich und ihre Familien selbst zivile Flüge buchen. Diese könnten sie mit ihrer Abfindung bezahlen, hieß es. Zu deren Höhe würden keine Angaben gemacht.