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Fehler zugeben? Ich doch nicht! Sachsen-MP Kretschmer im "Heute Jorunal"
© ZDF

„Heute-Journal“ mit Marietta Slomka: Kretschmers Fremdschäm-Auftritt verweist auf ein größeres Problem

Was wann hätte getan werden müssen, um Covid-19 zu besiegen: Das wissen stets alle. Viele verstricken sich dabei ungeniert in Widersprüche. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Etwas bedröppelt saß Michael Kretschmer, Sachsens Ministerpräsident, am Mittwochabend im „Heute-Journal“ und wurde von Marietta Slomka interviewt. Sachsen hat mit mehr als 300 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche den höchsten Inzidenz-Wert in Deutschland. Deshalb sollen dort ab Montag Schulen, Kitas, Horte und die meisten Geschäfte schließen.

Kretschmer mahnte und warnte. „Die Situation ist viel dramatischer als im Frühjahr“, sagte er, „und die Bevölkerung geht viel unbedarfter, lockerer mit dieser Situation um. Das ist sehr, sehr gefährlich.“

Slomka hakte nach.

Ob er, Kretschmer, nicht selbst dazu beigetragen habe, weil er noch im Oktober die Warnungen von Wissenschaftlern als „Hysterie“ abgetan hatte?

Daraufhin wand sich Kretschmer, dass es zum Fremdschämen war, sprach von fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung und dass es schwer sei, die gesellschaftliche Zustimmung zu erringen. Es zunächst mit milderen Mitteln versucht zu haben, sei durchaus richtig gewesen. Die Möglichkeit auch nur zu erwägen, irgendwann irgendeine Situation falsch eingeschätzt zu haben, kam ihm nicht in den Sinn.

Das Interview im „Heute-Journal“ sehen Sie hier ab Minute 4:20:

Außer Kraft gesetzt ist das Primat der Widerspruchsfreiheit

Von Stevie Wonder gibt es ein wunderbares Lied. Es heißt „He’s Misstra Know-It-All“. Es geht um einen Mann, der stets alles weiß, auf alles eine Antwort hat und nie zweifelt. Misstra Know-It-All ist der Unfehlbare, der Selbstgerechte, der Bescheidwisser. In der Coronakrise taucht dieser Typus vermehrt auf. Er folgt dem Motto: Je komplizierter die Probleme, desto einfacher die Lösungen. Jedenfalls sollen sie einfach klingen. Außer Kraft gesetzt ist das Primat der Widerspruchsfreiheit.

Am Mittwochmorgen redete FDP-Chef Christian Lindner im Bundestag. Man dürfe der Regierung nicht zum Vorwurf machen, dass wir in einer Pandemie leben, sagte er.

„Aber man muss kritisieren, dass der Sommer und viele Monate und die Möglichkeiten des Gesamtstaates nicht genutzt wurden, um genau diese Situation, vor der wir jetzt stehen, abzuwenden.“

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Nanu? War es nicht Lindner, der sich immer wieder über Symbolpolitik und zu harte Maßnahmen beschwert hatte?

Mitte November, vor rund drei Wochen also, gab Lindner dem „Spiegel“ ein Interview. Bloß nichts überstürzen, hieß seine Devise. „Wir dürfen das Land nicht komplett lahmlegen“, sagte er.

Stattdessen sollte die Bundesregierung „zunächst abwarten und analysieren, welche Wirkung die bisherige Kontaktbeschränkung hat“. Es müsse geprüft werden, „ob die Schließung von Gastronomie, Kultur und anderen Betrieben wirklich notwendig war“.

Und dann: „Die Vorschläge, bei jedem Schnupfen in Quarantäne zu gehen und den Schulunterricht zu halbieren, wirken wie reiner Aktionismus.“

Politiker wollen Kompetenz und Selbstsicherheit ausstrahlen

Warum ist es so schwer, Fehler zuzugeben? Die Corona-Pandemie trifft jeden Menschen und jedes Land unvorbereitet. Daraus folgen Irrtümer und Ratlosigkeiten. Den Handelnden Inkonsistenzen nachzuweisen, ist leicht. Glücklich, wer nicht selbst handeln muss.

Lautstark gefordert werden Perspektiven, langfristige Strategien, Gesamtkonzepte. Aber woher nehmen, wenn der entscheidende Faktor – das Verhalten jedes Einzelnen – schwer zu berechnen und zu prognostizieren ist?

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Politiker haben Angst, schwankend und wankelmütig zu wirken. Sie wollen Kompetenz und Selbstsicherheit ausstrahlen. Doch in einer Krise wie dieser schlägt das schnell ins Lächerliche um. Donald Trump fällt einem ein, wie er nach überstandener Infektion auf einem Balkon des Weißen Hauses demonstrativ den Mundschutz abnimmt.

„Jeder Mensch kann irren, aber nur Dummköpfe verharren im Irrtum“, heißt es bei Cicero. Das Verharren darin ist eine kompensatorische Form von Unsicherheit.

Außerdem zeugt es von einer Geringschätzung der Bürger. Die allermeisten Menschen verstehen, dass Corona eine Herausforderung ist, die nur gemeinsam bestanden werden kann. Sie verstehen, dass Maske, Abstand und Hygiene notwendig sind. Sie verstehen, dass manchmal harte Regeln erlassen werden müssen, um einen Zusammenbruch des Gesundheitswesens zu verhindern.

Was sie zwar auch verstehen, aber ablehnen: Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit. Von Misstra-Know-It-All verlangen sie ein Quäntchen Demut.

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