Merkel fordert die sofortige Freilassung: Kreml-Kritiker Nawalny muss für mehrere Jahre ins Gefängnis
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil nahm er still auf - und sendete eine Botschaft an seine Frau.
Ein Moskauer Gericht hat den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wegen Verstößen gegen Bewährungsauflagen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Der 44-Jährige muss dem Gericht zufolge für dreieinhalb Jahre in Haft. Nach Darstellung von Nawalnys Anwälten muss er davon nur zwei Jahre und acht Monate in einem Straflager absitzen.
Das Verfahren stand als politisch motiviert in der Kritik. Die Verteidiger Nawalnys wollen die verhängte Haftstrafe anfechten. „Natürlich werden wir Berufung einlegen“, sagte die Anwältin Olga Michailowa im Gerichtssaal. Zudem wolle sie sich an den Europarat wenden, sollte eine frühere Entscheidung des Europäischen Gerichtshof nicht befolgt werden. Die Richter in Straßburg hatten das Urteil von 2014 als willkürlich eingestuft und Nawalny Schadenersatz zugesprochen, den Russland gezahlt hatte.
Nawalny nahm das Urteil still und mit rollenden Augen auf. Während die Richterin im Eiltempo das Urteil sprach, malte er - wohl für seine Frau gedacht - mehrfach Herzen an das Glas in dem Kasten, in dem er stand.
Als klar war, dass er in ein Straflager soll, brach seine Ehefrau Julia Nawalnaja in Tränen aus. Sie nahm auch ihre schwarze Gesichtsmaske ab. „Bis bald. Sei nicht traurig. Alles wird gut“, konnte er zum Abschied noch sagen.
NGO: Mehr als 1000 Festnahmen am Dienstag
Nawalnys Team rief am Abend zu neuen Protesten in Moskau auf. Die Sicherheitskräfte hatten zunächst den Roten Platz am Kreml abgesperrt und waren mit einem Großaufgebot im Zentrum unterwegs.
Laut einer Nichtregierungsorganisation wurden am Dienstag mehr als 1050 Menschen festgenommen. Allein in Moskau habe die Polizei 865 Protestierende in Gewahrsam genommen, teilte die Organisation OVD-Info am Dienstagabend mit.
Das Urteil rief weltweite Empörung hervor. Unter anderem Deutschland, die USA und Großbritannien forderten die sofortige Freilassung des Oppositionspolitikers. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verlangte eine Freilassung des verurteilten Kremlgegners Alexej Nawalny gefordert. „Das Urteil gegen Alexey Nawalny ist fernab jeder Rechtsstaatlichkeit. @navalny muss sofort freigelassen werden“, zitierte Regierungssprecher Steffen Seibert die Kanzlerin am Dienstagabend auf Twitter. Und weiter: „Die Gewalt gegen friedliche Demonstranten muss aufhören.“
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) verurteilte das Urteil den Kreml-Kritiker scharf. "Nawalny muss unverzüglich freigelassen werden", schrieb der Minister beim Online-Dienst Twitter am Dienstag. Das Urteil sei "ein herber Schlag gegen fest verbriefte Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit in Russland".
US-Außenminister Antony Blinken erklärte am Dienstag, Nawalny müsse "umgehend und bedingungslos" freikommen. Auch die hunderten in den vergangenen Wochen festgenommenen Demonstranten müssten freigelassen werden
Großbritannien verurteilte das Urteil scharf und verlangte ebenfalls die sofortige Freilassung. „Die heutige perverse Entscheidung, die sich eher gegen das Opfer einer Vergiftung als gegen die Verantwortlichen richtet, zeigt, dass Russland die grundlegendsten Verpflichtungen, die von einem verantwortlichen Mitglied der internationalen Gemeinschaft erwartet werden, nicht erfüllt“, sagte Außenminister Dominic Raab einer Mitteilung vom Dienstag zufolge.
Er forderte zudem die Freilassung „aller friedlichen Demonstranten und Journalisten“, die zuletzt bei Protesten gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin festgenommen worden waren. Großbritannien hat in diesem Jahr den Vorsitz der G7-Gruppe der größten Industriestaaten inne.
Auch führende EU-Politiker kritisierten die Verurteilung Nawalnys und pochten auf eine sofortige Freilassung. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verurteilte die Haftstrafe für Nawalny in einer Twitterbotschaft am Dienstag "auf das Schärfste". "Ich fordere Russland auf, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen und ihn sofort und bedingungslos freizulassen", schrieb von der Leyen.
Ratspräsident Charles Michel erklärte, die EU akzeptiere das Urteil nicht. "Die Justiz darf nicht politisiert werden", schrieb er auf Twitter. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte die sofortige Freilassung des bekanntesten Widersachers von Russlands Präsident Wladimir Putin. Mit dem Urteil verstoße Russland "gegen seine internationalen Verpflichtungen zur Rechtsstaatlichkeit und zu den Grundfreiheiten", erklärte Borrell auf Twitter.
Der EU-Außenbeauftragte wird voraussichtlich am Donnerstag zu einem zweitägigen Besuch nach Moskau reisen. Aus Diplomatenkreisen hieß es, dass die EU auch nach der Verurteilung Nawalnys an dem Besuch festhalte. Bei seinem Aufenthalt in Moskau will Borrell einem Sprecher zufolge auch "die weitverbreiteten Festnahmen" während der Proteste gegen Putin an den vergangenen beiden Wochenenden ansprechen. Er hat die russischen Behörden zudem um ein Treffen mit dem Kreml-Kritiker gebeten.
Nawalny teilte abermals gegen Putin aus
Nawalny hatte seinen Auftritt bei dem umstrittenen Gerichtsprozess in Moskau für einen neuen Angriff auf Präsident Wladimir Putin genutzt. Der Kremlchef werde als „Wladimir, der Vergifter der Unterhosen“ in die russische Geschichte eingehen, sagte Nawalny am Dienstag, wie verschiedene Kanäle im Nachrichtendienst Telegram aus dem Gericht berichteten. Nawalny erinnerte daran, dass er nur knapp einen Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok überlebte. Für das Attentat macht er Putin und Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB verantwortlich.
Das „Killerkommando“ soll das Nervengift in seiner Unterhose angebracht haben. Nawalny kritisierte erneut, dass russische Ermittler bis heute Untersuchungen zu dem Anschlag vom August ablehnten.
„Wir haben nachgewiesen, dass Putin diesen versuchten Mord verübt hat.“ Und nun spiele „dieser kleine diebische Mensch in seinem Bunker“ verrückt, weil sein Gegner überlebt habe, meinte der 44-Jährige. Putin und der FSB weisen es zurück, in den Mordanschlag verwickelt zu sein.
Nawalny kritisierte, dass Putin im Jahr 2000 völlig zufällig auf seinen Posten als Präsident gekommen sei. Der frühere Geheimdienstchef habe nie in seinem Leben an einer politischen Debatte teilgenommen. „Sein einziges Kampfinstrument ist das Töten“, sagte Nawalny.
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Der Oppositionsführer rief die Menschen in seinem Land auf, trotz des Drucks ihre Angst zu überwinden. Er verlangte zudem die umgehende Freilassung aller politischen Gefangenen in Russland.
Gesetzlosigkeit und Willkür seien das Wesen des politischen Systems in Russland, meinte der Politiker weiter. „Das ist furchtbar“, sagte er in seinem Schlusswort. Die vom Kreml eingesetzte Richterin Natalia Pepnikowa forderte Nawalny auf, im Gerichtssaal keine Politik zu machen. Das Land gehöre den Menschen, erwiderte Nawalny. Sie hätten das Recht, gegen Missstände zu protestieren.
Das Beste an Russland seien heute „die Menschen, die keine Angst haben“. „Es ist nicht schwer, mich einzusperren“, sagte Nawalny. „Das hier passiert vor allem, um eine möglichst große Zahl an Menschen einzuschüchtern“, meinte er mit Blick auf das international als Justizwillkür kritisierte Verfahren. „Aber ein ganzes Land lässt sich nicht einsperren.“
Zuvor hatte Nawalny die Vorwürfe der russischen Strafvollzugsbehörde (FSIN) zurückgewiesen, er habe während seines Patienten-Aufenthaltes in Deutschland gegen Bewährungsauflagen verstoßen.
Er habe der FSIN seine Adresse in Deutschland mitgeteilt, sagte der 44-Jährige am Dienstag vor einem Moskauer Gericht. „Was hätte ich denn sonst noch tun sollen? Hätte ich Ihnen ein Video von meiner Physiotherapie schicken sollen?“
Die FSIN wirft Nawalny vor, er habe während seiner Zeit in Deutschland, wo er wegen der gravierenden Folgen eines Giftanschlags behandelt wurde, „systematisch“ gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Deshalb hat sie die Umwandlung einer bereits bestehenden Bewährungs- in eine Haftstrafe beantragt. Dieser Antrag wird von der Staatsanwaltschaft unterstützt.
Die Strafvollzugsbehörde hatte eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren gegen Nawalny gefordert. Der 44-Jährige habe gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen und insgesamt sieben Mal die Meldepflicht bei den russischen Behörden verletzt, hieß es vor Gericht. Zudem forderte der Strafvollzug eine Geldstrafe von 500.000 Rubel (5400 Euro), wie russische Agenturen aus dem Gerichtssaal am Dienstag meldeten.
Russland will „Belehrungen“ der EU nicht hinnehmen
Die Verteidigung hatte dagegen argumentiert, dass der Oppositionelle in Deutschland war und sich entsprechend nicht bei den russischen Behörden melden konnte. Nawalny war im August nach einem Giftanschlag in Sibirien, den er beinahe nicht überlebt hätte, nach Deutschland gebracht und in der Berliner Charité behandelt worden. Bei seiner Rückkehr nach Russland im Januar wurde er umgehend inhaftiert.
Während der Prozess läuft, hat der Kreml die Kritik am Vorgehen gegen den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny erneut scharf zurückgewiesen. Russland werde „Belehrungen“ der EU nicht hinnehmen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag der Agentur Interfax zufolge.
Die EU, Deutschland und die USA hatten mehrfach die Freilassung Nawalnys gefordert. Die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, kritisierte bei Facebook die Anwesenheit mehrerer Diplomaten beim umstrittenen Prozess gegen Nawalny in Moskau als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands.
Russische Polizei nimmt sogar Journalisten fest
Das von Hunderten Festnahmen überschattete Verfahren in Moskau wurde am Dienstag für zwei Stunden unterbrochen - aus technischen Gründen, wie es hieß. Auch zahlreiche Journalisten kamen in Gewahrsam. Es gab mehr als 120 Festnahmen, wie das unabhängige Portal ovdinfo.org berichtete. Viele würden wahllos aufgegriffen, berichtete eine Reporterin der Deutschen Presse-Agentur.
Die Verhandlung am Moskauer Stadtgericht lief unter einem beispiellosen Polizeiaufgebot ab. Das Moskauer Stadtgericht wurde von Hundertschaften der auf Anti-Terror-Einsätze spezialisierten Sonderpolizei OMON bewacht und weiträumig abgesperrt mit Metallgittern, wie eine Reporterin der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berichtete.
Vor dem Gericht gab es auch Polizei auf Pferden, zum Gericht kam unter anderem Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja, die eine schwarze Gesichtsmaske trug. Zufahrtsstraßen zum Gerichtsgebäude waren ebenfalls gesperrt, es standen zahlreiche Gefangenentransporter bereit. Viele Experten sehen in dem Prozess einen neuen Versuch, den Gegner von Kremlchef Wladimir Putin zum Schweigen zu bringen.
Nawalny überlebte im August nur knapp einen Mordanschlag mit dem international geächteten chemischen Kampfstoff Nowitschok. Der 44-Jährige macht für das Attentat Putin und Agenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB verantwortlich. Nawalny sieht den Prozess als Strafe des Kreml dafür, dass er nicht gestorben ist. Putin und der FSB hatten die Vorwürfe des Anschlags zurückgewiesen.
In seiner Zeit in Deutschland, als er sich von dem Attentat erholte, soll Nawalny sich nicht - wie in dem früheren Verfahren vorgeschrieben - bei den russischen Behörden gemeldet haben. Der Strafvollzug warf ihm nun vor Gericht vor, in Deutschland Sport getrieben und sich frei bewegt zu haben, ohne seinen Meldepflichten in Moskau nachzukommen.
Das Vorgehen der russischen Justiz hatte international Entsetzen ausgelöst. Die Bundesregierung forderte mehrfach die Freilassung Nawalnys. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe das frühere Strafverfahren gegen Nawalny als „grob willkürlich beurteilt“.
Russland lehnt Ermittlungen ab
„Statt Nawalny und seine Unterstützer weiter zu verfolgen, zu unterdrücken und zu kriminalisieren, müssen endlich strafrechtliche Ermittlungen beginnen, um das Gift-Attentat auf ihn aufzuklären“, verlangte sie.
Russland lehnt Ermittlungen ab, weil es keine Hinweise auf eine Vergiftung sieht. Mehrere westliche Labors, darunter eins der Bundeswehr, hatten die Nowitschok-Spuren allerdings zweifelsfrei nachgewiesen.
Am Dienstag wird bereits die schwedische Außenministerin Ann Linde zu Gesprächen mit ihrem russischen Kollegen Sergej Lawrow in Moskau erwartet. Sie hat derzeit auch den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne.
Das Team Nawalnys, aber auch andere prominente Oppositionelle wie der im Ausland lebende Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow fordern neue Sanktionen des Westens gegen Russland. Die EU hat bereits Sanktionen gegen ranghohe russische Funktionäre verhängt, darunter auch wegen des Mordanschlags auf Nawalny mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok. Russland weist zurück, dass es eine Vergiftung gegeben habe. Dagegen haben mehrere Labors, darunter eins der Bundeswehr, Nowitschok-Spuren im Blut Nawalnys nachgewiesen. (dpa, Reuters, AFP, Tsp)