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Am Stock. Der steigende Eigenanteil wird für immer mehr Heimbewohner zum Problem.
© Jens Büttner/dpa

Länder wollen Eigenanteil im Heim begrenzen: Wie bleibt die Pflege bezahlbar?

Trotz Beitragserhöhung geht der Pflegeversicherung das Geld aus. Von den Ländern kommt jetzt ein Konzept, mit dem sich die Finanzierung neu regeln ließe.

Alles Gute hat eine Kehrseite. Das ist gerade mal wieder in der Sozialpolitik zu besichtigen. Aufgrund der erwünschten und überfälligen Reformen, die es für eine menschenwürdige Pflege im Land braucht, laufen die Kosten aus dem Ruder. Im vergangenen Jahr sind die Pflegekassen mit rekordverdächtigen 3,55 Milliarden Euro ins Minus gerutscht. Das in zwölf Monaten eingefahrene Defizit ist höher als alle Finanzreserven, die in der Pflegeversicherung überhaupt noch vorhanden sind. Und es ist die erwartbar gesalzene Rechnung für die politisch gefeierten Pflegereformen der vergangenen Legislatur, mit denen vor allem zweierlei erreicht wurde. Dass man sich in Heimen und ambulanten Diensten endlich – zumindest vom Anspruch her – von der üblen Satt-Sauber-Pflege verabschiedet hat, also den ganzen Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Blick nimmt. Und dass auch Demenzkranke, die rein körperlich noch weitgehend intakt, im Alltag aber nicht mehr zurechtkommen, einen Leistungsanspruch haben.

Eine halbe Million mehr Anspruchsberechtigte sind es, seit Inkrafttreten der Reformen Anfang 2017. Keine Frage: Das kostet.

Das Geld reicht nur noch für drei Jahre

Doch wer möchte das Rad hier wieder zurückdrehen? Um die Verbesserungen bezahlbar zu machen, wurden die Pflegebeiträge zum Jahresbeginn um satte 0,5 Prozentpunkte erhöht. Nur durch diesen, übrigens ebenfalls kaum kritisierten Kraftakt, ist gewährleistet, dass die Pflegekassen jetzt, zumindest auf absehbare Zeit, über Wasser bleiben. Drei Jahre, lautet ihre Prognose. Länger werde man auch mit einem Beitragssatz von 3,05 Prozent (3,3 Prozent für Kinderlose) nicht auskommen.

Vor allem, weil die eigentliche Herausforderung noch bevorsteht: Wenn das Pflegepersonal im Land nicht bald deutlich besser bezahlt wird, droht ein Zusammenbruch des Systems. Dass die Nachfrage durch den demografischen Wandel weiter steigt, dass auch die Arbeitsbedingungen für vorhandene Pflegekräfte spürbar verbessert werden müssen, um sie im Job zu halten, kommt noch obendrauf. Schon jetzt müssen die Anbieter immer mehr Pflegebedürftige abweisen, weil es ihnen an Fachkräften fehlt. Das betrifft vor allem ambulante Dienste. Die Folge davon: Alte Menschen, die noch gut zu Hause versorgt werden könnten, müssen in Heime, wo die Pflege deutlich teurer ist und sich die Engpässe auch immer weiter verschärfen. Ein Teufelskreis.

Minister wünscht sich eine Grundsatzdebatte

Wie soll das weitergehen? Gesundheitsminister Jens Spahn, arbeitet an der Eindämmung des immer deutlicher zutage tretenden Pflegenotstandes, drückt sich jedoch bislang vor der Kostenfrage. Es brauche eine „Grundsatzdebatte“ über die künftige Finanzierung, verkündet er immerhin. Und dass die Gesellschaft für menschenwürdige Pflege tiefer in die Tasche greifen müsse. Heißt: Es kann nicht bleiben, wie es ist.

Doch wer ist „die Gesellschaft“? Sind es die Angehörigen der Pflegebedürftigen, die vielleicht mal erben werden und auch deshalb stärker als bisher zur Kasse gebeten werden sollten? Meint Spahn die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und ihre Arbeitgeber, will er ihre Beiträge weiter erhöhen? Oder sind es die Steuerzahler, also alle im Land, die bei der Pflege als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe jetzt gefälligst mal mithelfen sollten, wie sie das ja bereits bei gesetzlicher Krankenversicherung und Rente tun?

"Grundlegende Kurskorrektur" mit Kostenbremse und Steuerzuschuss

Wenn dem Bund mit seinen Regierenden nichts einfällt, sind glücklicherweise noch die Länder da. Am kommenden Freitag präsentieren vier von ihnen im Bundesrat ein Konzept, das die Pflegefinanzierung auf komplett neue Beine stellen würde. Die Initiative kommt aus Hamburg, interessanterweise hat sich neben den SPD-geführten Ländern Bremen und Berlin auch das schwarz-grün-gelb regierte Schleswig-Holstein angeschlossen.

Mehr als 20 Jahre nach Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung sei es „an der Zeit, das Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität neu auszubalancieren“, findet die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD). Um die Pflege für die Bürger bezahlbar zu halten, brauche es eine „grundlegende Kurskorrektur“.

Die Idee ist eine dreifache. Erstens: Statt den Pflegebedürftigen immer höhere Kosten aufzubürden, soll ihr Eigenanteil eingefroren werden. Alles was über eine bestimmte Obergrenze hinausgeht, wäre dann von den Pflegekassen zu tragen. Zweitens würde die Pflegeversicherung im Gegenzug von dem dicken Posten der medizinischen Behandlungspflege in Heimen entlastet. Künftig hätten dafür die Krankenkassen aufzukommen – was den Vorteil hätte, dass sie auch aus Eigeninteresse ein größeres Interesse an Prävention und Reha für ältere Menschen entwickeln könnte. Es geht dabei schließlich um nicht weniger als drei Milliarden Euro im Jahr. Und damit die Pflegebeiträge nicht in den Himmel schießen, soll es - drittens - auch für diesen Zweig der Sozialversicherung fortan einen Steuerzuschuss geben. Aufwachsend, zum Einstieg denken die Initiatoren an mindestens 1,5 Milliarden Euro. Das entspreche den Beiträgen für die Rente von pflegenden Angehörigen, die bisher von den Pflege-Beitragszahlern allein aufgebracht werden müssen.

Eigenanteil überfordert immer mehr Heimbewohner

Tatsächlich ist der Eigenanteil gerade für die 950 000 Heimbewohner ein wachsendes Problem. Durch die „gewünschte Entwicklung aus besseren Leistungen und mehr Pflegepersonal mit besserer Bezahlung“ werde er rapide steigen, prophezeien die Antragsteller. Der Grund dafür ist das bisherige Prinzip der Pflegeversicherung. Weil sie nur einen Zuschuss auf die anfallenden Pflegekosten übernimmt und es dafür festgelegte Höchstbeträgen gibt, schlägt jede Lohnerhöhung und anderweitige Kostensteigerung voll auf den Eigenanteil der Pflegebedürftigen durch. Einen Vorgeschmack liefert die Post, die viele Angehörige zum Jahresbeginn erhalten haben. Die aktuellen Kostenerhöhungen betragen teilweise mehrere hundert Euro im Monat.

Und die Summe ist nicht ohne. Im Schnitt haben sich die Kosten, die von den Heimbewohner selbst aufzubringen sind, seit Anfang 2018 auf 1830 Euro erhöht - eine Steigerung von 58 Euro im Monat. In etlichen Ländern, wie Nordrhein-Westfalen, dem Saarland oder Baden-Württemberg, zahlen Pflegebedürftige sogar mehr als 2000 Euro. Die Summe setzt sich zusammen aus den Kosten für Unterkunft und Verpflegung, einem (gar nicht so kleinen) Anteil für Investitionen des Hauses und einem weiteren für den regional ausgehandelten Pflegesatz.

Bei reinen Pflegekosten ist Berlin am teuersten

An reinen Pflegekosten haben sich Heimbewohner pro Monat im Schnitt derezit mit 655 Euro zu beteiligen. Allerdings ist der individuelle Kostenaufwand je nach Bundesland unterschiedlich. Bei einem Vergleich 2018 lagen die Berliner Heime mit einem Eigenanteil von mehr als 870 Euro für die reine Pflege an der Spitze, gefolgt von Baden-Württemberg und dem Saarland. Heimbewohner in Sachsen und Thüringen kamen auf nicht mal ein Drittel dieser Summe.

Für die Pflegebedürftigen und ihre Familie sei die-Eigenbeteiligungs-Entwicklung weder zu kalkulieren noch zu beeinflussen, heißt es in dem Bundesratsantrag. „Sie gibt Anlass zur Sorge vor einem mit dem Pflegerisiko immer noch verbundenen Armutsrisiko beziehungsweise der Notwendigkeit, am Ende des Lebens Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen.“ Schon jetzt bezögen in Deutschland 37 Prozent aller Pflegeheimbewohner Hilfe zur Pflege. Das sind rund 300.000 Menschen. Bei den zu Hause Versorgten seien es grade mal drei Prozent. Dass Pflegebedürftige die Kosten fürs Wohnen und den allgemeinen Lebensunterhalt allein aufzubringen hätten, sei „breit akzeptiert“. Der Eigenanteil für reine Pflege müsse aber „verlässlich berechenbar“ sein und dürfe nicht weiter wachsen.

Gehaltssteigerungen machen Pflegebedürftigen zu schaffen

Da die Personalausgaben der Heime 70 bis 80 Prozent der Pflegekosten ausmachen, schwant Experten aber gerade bei diesem Punkt Übles. Denn die Personalkosten müssen und werden deutlich steigen. Tarifgehälter dürfen von den Kassen nicht mehr als unwirtschaftlich abgelehnt werden. Ein geplantes Bemessungssystem wird vielerorts schon bald bessere Personalausstattung erzwingen. Die Ausbildungsoffensive der Regierung und der Wegfall des Schulgeldes kosten ebenfalls. Und auch die neue generalistische Pflegeausbildung wird einen Gehaltssprung zur Folge haben.

Pflegekräfte im Krankenhaus verdienen bisher im Schnitt 600 Euro mehr als in der Altenpflege. Allein daraus erwüchsen den Heimen Mehrbelastungen von 2,3 Milliarden Euro, rechnen die Hamburger in ihrem Bundesrats-Antrag vor. Der Eigenanteil für Heimbewohner steige nur durch diesen Nachholeffekt um monatlich 120 Euro.

Auch in der Union gibt es Sympathisanten

Von der SPD im Bund wird der Ländervorstoß mit Wohlwollen verfolgt – und auch in der Union gibt es Sympathisanten. Wegen der steigenden Kosten sei es „unerlässlich, dass wir die Eigenanteile in der stationären Pflege auf einen zumutbaren Beitrag begrenzen“, meint etwa der CDU-Abgeordnete und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel. Und anders als der SPD-Experte Karl Lauterbach will er die dadurch entstehenden Zusatzkosten auch über Steuern ausgleichen. Lauterbach hält nichts von Steuerzuschüssen, weil dadurch aus seiner Sicht die bereits gemolkenen Beitragszahler erneut mitbelastet würden, wie er dem Tagesspiegel sagte. Er möchte stattdessen, Stichwort Bürgerversicherung, auch Gutverdiener und Beamte bei den Beiträgen mit ins Boot bekommen. "Wir verbessern Qualität und Bezahlung in der Pflege und jedes Jahr gibt es bis zu 100.000 Menschen zusätzliche Pflegefälle", twitterte er am Samstag. Daher würden die Kosten "jahrzehntelang stark steigen. Das geht nur mit Vollkaskovariante und Bürgerversicherung, mit Beamten und Reichen."

Die Kassen wehren sich gegen den geforderten Deckel bei der Eigenbeteiligung. Das wäre „sozialpolitisch fragwürdig“, weil die jeweiligen Eigenanteile und auch die Betroffenen in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sehr unterschiedlich seien, meint der für Pflege zuständige Vorstand beim GKV-Spitzenverband, Gernot Kiefer. Sprich: Wer mehr hat, soll auch mehr zahlen. Nötig seien stattdessen bedarfsorientierte Hilfen – und eine verlässliche Dynamisierung der Versicherungsleistungen, sagte Kiefer dem Tagesspiegel. Dafür müsse es regelmäßige Kostenüberprüfungen durch das Statistische Bundesamt geben.

Kassen für Zuschuss von mindestens 2,7 Milliarden Euro im Jahr

Dafür sattelt der Kassenfunktionär beim Ruf nach Steuerzuschüssen drauf. 2,7 Milliarden Euro müssten es gleich von Anfang an sein, findet Kiefer – fast doppelt so viel, wie von den Hamburgern gefordert. Wenn schon, dann richtig. Und Heiner Garg, Sozialminister von Schleswig-Holstein und FDP-Politiker, liefert den Bedenkenträgern auch in seiner eigenen Partei, eine schlüssige Begründung für den Ruf nach dem Steuerzahler. Wenn die Pflegekosten immer weiter stiegen, benötigten immer mehr Heimbewohner Unterstützung von den Kommunen, sagt er. Deren sogenannte Hilfe zur Pflege sei aber auch steuerfinanziert. „Deswegen ist es so unsinnig vom Bund, sich zu sperren.“

Populär wäre ein Steuerzuschuss allemal. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen präsentierte vor kurzem eine Umfrage, wonach sich das 89 Prozent der Bürger wünschen. Gleichzeitig gaben mehr als drei Viertel der Befragten an, sich für den eigenen Pflegefall finanziell nicht genügend abgesichert zu fühlen. Das Problem sei, dass die Leistungen der Pflegeversicherung mit den Kostenentwicklungen nicht Schritt hielten, sagt Verbandsvorstand Klaus Müller. Der Pflegefall dürfe "nicht länger zur Kostenfalle werden".

Bisher nur Löcher gestopft

Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnt, dass die jüngste Beitragserhöhung die Löcher nur bis zum Ende der Legislaturperiode zu stopfen vermöge. Er erwarte von Spahn eine Antwort auf die Frage, „ob der Bundeszuschuss aus Steuermitteln kommen wird“, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch der Deutschen Presse-Agentur. Nötig sei auch ein klares Bekenntnis, dass die Pflegeversicherung alle Kosten der Pflege trage. Die Bewohner von Pflegeheimen hätten mit den Ausgaben für die Unterbringung, die Verpflegung und die Ausbildung der Pflegekräfte sowie Investitionen in die Gebäude schon mehr als genug zu stemmen.

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