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Leer und trotzdem bezahlt. Die Krankenkassen wollen, dass der Bund auch das Vorhalten von Leistungen in Kliniken finanziert.
© imago images/Max Stein

Gesundheitsökonom Reinhard Busse im Interview: „Krankenhäuser sind in Deutschland überflüssig“

Laut Mediziner Busse haben sich Kliniken nur um wenige der Corona-Patienten gekümmert. Und 14,5 Milliarden Euro Steuergeld kassiert – „fürs Nicht-Behandeln“.

Der Mediziner Reinhard Busse, 58, ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin. Er ist daneben Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies und Fakultätsmitglied der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Die Fragen stellte Heike Haarhoff.

Herr Busse, die Pandemie, aber auch neue Gesetze haben die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen empfindlich in die Höhe schießen lassen. Allein im ersten Halbjahr verbuchte die GKV ein Defizit von 1,9 Milliarden Euro. Jetzt soll der Spardruck weitergegeben werden, und zwar bevorzugt an die Krankenhäuser im Land, dank derer wir doch bislang recht gut durch die Coronakrise gekommen sind. Ist das fair?
Recht gut durch die Krise gekommen? Wahrscheinlich, aber: Wegen der Krankenhäuser? Ich bitte Sie! Dass wir bislang gut durch die Pandemie gekommen sind in Deutschland, liegt nicht primär an den Krankenhäusern. Die Krankenhäuser haben sich nur um ein Fünftel der Patienten gekümmert; und von denen, die stationär behandelt wurden, sind 22 Prozent verstorben, genauso viele wie etwa in Frankreich.

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Und das rechtfertigt es, ihnen jetzt den Geldhahn abzudrehen?
Von Abdrehen kann überhaupt gar keine Rede sein. Richtig ist: Für die Krankenhäuser waren die letzten eineinhalb Jahre goldene, weil sie durch die Freihaltepauschalen und für zusätzliche – echte und vermeintliche – Intensivbetten mehr Geld erhalten haben, als sie über die Fallpauschalen für reale Patienten jemals eingenommen hätten.

Wir sprechen hier von 14,5 Milliarden Euro in eineinhalb Jahren, die an die Krankenhäuser allein aus Steuermitteln geflossen sind – fürs Nicht-Behandeln. Dazu kommen die regulären Mittel aus der GKV. Falls die Erwartungshaltung der Krankenhäuser ist, dass es so weitergeht mit den Subventionen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendeine künftige Regierung – wer immer sie stellt – dies mittragen wird.

„Großteil der Krankenhäuser in Deutschland überflüssig“

Die Freihaltepauschalen der GroKo waren ein Irrtum?
Der Fehler war, dass sie gezahlt wurden auf Grundlage der 2019 durchgeführten Patientenbehandlungen – und nicht auf Grundlage dessen, was 2020 und 2021 wirklich benötigt wird. Mir jedenfalls hat sich nie erschlossen, weswegen Vorhaltepauschalen gezahlt werden für etwas, das gar nicht vorgehalten zu werden braucht. Ein Großteil der Krankenhäuser in Deutschland ist überflüssig.

Ist das Ihr Appell an den oder die künftige Bundesgesundheitsminister:in  Krankenhäuser mit weniger Mitteln auszustatten oder direkt zu schließen?
Schon vor Corona haben wir drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die stationäre Versorgung ausgegeben. Von allen OECD-Ländern ist dieser Wert nur in Griechenland und Österreich höher. Selbst in den USA liegt er niedriger, obwohl die Amerikaner insgesamt viel mehr Geld für ihr Gesundheitswesen ausgeben. Der Reflex, dass das, was am notwendigsten ist im Krankenhaussektor, Geld sei, dieser Reflex ist falsch.

Krankenhaus, Symbolbild
Krankenhaus, Symbolbild
© Hannah Mckay/dpa

Was ist richtig?
Wir brauchen Reformen. Krankenhäuser dürfen nur die Leistungen erbringen und abrechnen, für die sie ausgestattet sind. Wer keine Notfallaufnahme hat, darf keine Notfälle abrechnen. Wer keine Schlaganfalleinheit hat, darf keine Schlaganfälle abrechnen. Wer kein Krebszentrum hat für eine bestimmte Organart, darf keine Krebsfälle abrechnen. Eigentlich ganz simpel, nur läuft es in Wahrheit leider nicht so.

Sie unterstellen, dass Kliniken Krebsbehandlungen abrechnen, die sie gar nicht durchführen?
Natürlich führen sie sie durch. Aber nicht auf adäquate Weise. Nehmen Sie den Bauchspeicheldrüsenkrebs, das ist der Krebs mit der höchsten Sterblichkeit. 70 Prozent der Patienten werden außerhalb von Bauchspeicheldrüsenkrebszentren behandelt. 70 Prozent! Ich halte das für skandalös. Im Moment darf einfach jedes Krankenhaus machen, was es will, selbst wenn es dafür gar keine Kompetenz besitzt.

[Lesen Sie hier bei T+:  „Wir steuern auf eine Katastrophe zu“ - Berlins Kinderkliniken sind überlastet]

Die Krankenhausplanung ist Ländersache. Wie soll der Bund Einfluss darauf nehmen, welche Klinik wofür zuständig ist?
Der Bund kann über die Qualitätssicherung und die Vergütung, die beide in seine Kompetenz fallen, steuernd eingreifen. Der Bund könnte etwa die Vorgabe machen, dass Herzinfarktpatienten nur behandeln darf, wer auch über einen Linksherzkatheter verfügt. Derzeit ist es so, dass deutschlandweit 570 Häuser einen solchen Linksherzkatheter haben, aber mehr als 1000 Häuser Herzinfarkte abrechnen. Gut 450 Häuser sollten das dann künftig nicht mehr machen können, zum Segen der Patienten übrigens.

In Deutschland versterben von allen Herzinfarktpatienten während ihres stationären Aufenthalts 8,5 Prozent. In Dänemark, nur zum Vergleich, liegt die Sterblichkeit bei 3,2 Prozent. Wir müssen also dafür sorgen, dass Herzinfarktpatienten nur noch dort landen, wo sie kompetent versorgt werden. Und dann wäre schnell klar, dass für einige Krankenhäuser nur die Basisversorgung übrig bliebe. Die jeweiligen Krankenhausträger dürften dann entscheiden, ob sich das noch für sie lohnt – oder ob sie den Standort nicht lieber schließen.

„Fast zwei von fünf Betten stehen leer“

Nordrhein-Westfalen verfolgt gerade genau diesen Weg  und will seine Krankenhausplanung entsprechend radikal umstellen, weg von den Fachabteilungen und von der starren Plangröße Bett hin zu stärkerer Orientierung am tatsächlichen Versorgungsgeschehen. Klingt im Ergebnis nach Straffung und Standortzusammenlegung.
Mein Fachgebiet hat den nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister dahingehend ja auch recht intensiv beraten. Wir haben derzeit vielerorts eine unzureichende Qualität bei zugleich eklatanter Überversorgung, was die Zahl der Häuser betrifft: Im Durchschnitt sind nur 64 Prozent der Betten bei den kleinen Krankenhäusern belegt, fast zwei von fünf Betten stehen an einem durchschnittlichen Tag leer.

Könnte das auch ganz banal daran liegen, dass es vielerorts Mehrbettzimmer gibt, man aber immer nur ein Bett pro Zimmer belegen kann in Zeiten der Pandemie?
Nein, es sind vielmehr die Patienten, die nicht mehr kommen. Bewusst nicht mehr kommen wollen, muss man sagen. Das berichten mir auch Hausärzte. Sie sagen mir, Herr Busse, früher, wenn ich zu den Patienten gefahren bin im Notdienst, dann stand der Koffer schon gepackt da, weil die Patienten davon ausgingen, dass sie ins Krankenhaus gehen würden. Heute stehen keine Koffer mehr da.

Vielleicht haben ja auch einfach die Hausärzte ein wenig dazu gelernt, was eine gute Patientenbetreuung betrifft?
Sicherlich auch. Oder es ist ihnen zusammen mit den Patienten klar geworden. Früher waren viele Patienten gewiss, dass die Krankenhausbehandlung möglicherweise nichts nützt, aber auch nichts schadet. Davon ist die Bevölkerung abgerückt. Heute weiß sie: Krankenhäuser sind auch gefährliche Orte.

Wir sehen, dass die Fallzahlen bis Mai 2021 deutlich gefallen sind – gegenüber 2019 um 20 Prozent. Und zwar genau bei den Indikationen, bei denen die Patienten zusammen mit ihren Hausärzten entscheiden, dass sie ins Krankenhaus gehen, etwa Diabetes oder Bluthochdruck. Und nicht bei den Indikationen, bei denen die Krankenhäuser die Operationen absagen. Und auch bei den typischen Herzinfarkten werden gleich viele wie vorher stationär behandelt.

Patienten tun alles, um Krankenhäuser zu vermeiden?
Ja, vor allem die kleinen Häuser, und nicht nur die Patienten meiden sie. Auch das Personal möchte dort immer seltener arbeiten. In der Politik heißt es oft, dies liege daran, dass die kleinen Krankenhäuser auf dem Land seien. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Mediziner wollen deswegen nicht in einem kleinen Krankenhaus arbeiten, weil sie dort niemals Facharzt werden. Denn wenn ein Krankenhaus keinen Linksherzkatheter hat, tja, dann werden Sie dort nie Internist. Beim Pflegepersonal ist es genauso.

„In Deutschland mehr Pflegepersonal als in jedem anderen EU-Land“

Das Pflegepersonal wünscht sich vor allem mehr Kolleginnen und Kollegen, so dass die immense Arbeitsbelastung sinkt. Deswegen streiken die übrigens auch.
Wir haben in Deutschland mehr Pflegepersonal als in jedem anderen EU-Land außer Finnland.

Die Pflegerinnen und Pfleger sollen sich nicht so anstellen?
Das nicht ... pro belegtem Bett haben wir weniger Pflegepersonal als in anderen Ländern. Die Frage ist also: Warum ist das Zahlenverhältnis trotz genügend Personal am Bett so schlecht? Ganz klar: Weil wir immer noch zu viele Patienten im Krankenhaus haben. Und nicht, weil wir zu wenig Pflegepersonal hätten. Wir behandeln in Deutschland 50 Prozent mehr stationäre Fälle pro Einwohner als im Schnitt unserer Nachbarländer. Im Vergleich zu Dänemark sind es sogar fast 100 Prozent mehr.

Wir müssen folglich die Anreize wegnehmen für unnötige stationäre Behandlungen. Und das bedeutet, dass wir die Krankenhäuser nicht länger – wie bisher – pro gefülltes Bett bezahlen, sondern nach ihrer Leistung. Von den derzeit etwa 1450 Akut-Krankenhäusern werden dann möglicherweise nur 600 echte Krankenhäuser übrig bleiben, die anderen können dann so etwas werden wie integriert-ambulant-stationäre Zentren, gern auch mit längeren Öffnungszeiten und Kurzzeitbetten.

Operation, Symbolbild
Operation, Symbolbild
© dpa

Wer soll das regeln? Der Markt?
Es wäre falsch, die überflüssigen Kliniken einfach ungeplant und unkontrolliert pleitegehen zu lassen. Es geht ja nicht zuerst um das Schließen, sondern darum, bedarfsgerechte Krankenhäuser am richtigen Ort zu eröffnen.
Mit welcher Partei kann das aus Ihrer Sicht nach der Bundestagswahl am besten gelingen?
Puh. Die Union und auch die SPD lavieren da in ihren Wahlprogrammen ganz schön rum. Im Grunde gehen sie das Thema Krankenhäuser gar nicht offensiv an. Ich finde das enttäuschend. Die Grünen schlagen bundesweite Vorgaben für eine gestufte Versorgung vor; das geht in die richtige Richtung, um trotz Landeszuständigkeit für die Planung zu einer bundesweiten Verbesserung zu kommen. Und die FDP sagt erfrischend klar, dass es zu viele Krankenhäuser gibt.

Heike Haarhoff

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