Russischer Truppenaufmarsch: Konflikt in der Ostukraine – die wichtigsten Fragen und Antworten
Moskau zeigt Muskeln, Kiew beschwichtigt, der Westen macht sich Sorgen und die Türkei will vermitteln. Droht ein neuer Krieg am Donbass?
Groß ist die Sorge, dass der Konflikt Osten der Ukraine erneut eskaliert. Jetzt hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Entspannung aufgerufen. Am Samstagabend empfing er seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenski und sicherte ihm Unterstützung bei Friedensbemühungen zu.
Am Sonntag meldete Kiew erneut einen getöteten Soldaten bei Kämpfen gegen Separatisten.
Wie ist die Lage in der Ukraine?
Vor sieben Jahren brach der Krieg in der Ostukraine aus. Teile der Gebiete Luhansk und Donezk entlang der russischen Grenze stehen seitdem unter Kontrolle moskautreuer Kämpfer. Ein Friedensplan von 2015 liegt auf Eis. Immer wieder gibt es Gefechte mit Verletzten und Toten. Mehr als 13.000 Menschen sind bisher ums Leben gekommen.
Zuletzt hielt eine im Juli vereinbarte Waffenruhe zwischen ukrainischer Armee und den Separatisten. Doch seit wenigen Wochen nimmt die Gewalt wieder zu. Sowohl Russland als auch die Ukraine geben sich die Schuld für die neue Eskalation – und zogen jeweils unweit der Konfliktregionen Truppen zusammen.
Die Separatisten warnten vor einem Angriff der ukrainischen Armee. Experten blicken vor allem mit Sorge auf die russische Militärpräsenz entlang der Grenze. Laut US-Regierung ist sie so stark wie seit 2014 nicht mehr. Mehrere Tausend russische Soldaten sollen sich derzeit in der Region befinden.
Welche Gründe gibt es für die aktuelle Eskalation?
Was genau zu den neuen Spannungen führt, ist unklar. Es gibt verschiedene Erklärungsversuche. Dass eine politische Lösung des Konflikts stockt, missfällt sowohl Kiew als auch Moskau. Präsident Selenski ist 2019 mit dem Versprechen angetreten, den Konflikt beizulegen. Verhandlungen wurden zunächst wiederbelebt und einzelne Fortschritte erzielt, etwa beim Austausch von Gefangenen. Dennoch befinden sich die Friedensbemühungen in einer Sackgasse.
Selenski setzt dies im Zusammenspiel mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage seines Landes und der Pandemie innenpolitisch unter Druck. Im Februar ließ er prorussische Fernsehsender im Land schließen und verhängte Sanktionen gegen den Oligarchen Viktor Medwetschuk, einem Vertrauten von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Moskaus Truppenverlegung könnte eine Antwort darauf sein, heißt es.
Eine weitere mögliche Erklärung lautet, dass Moskau Joe Biden testen will, um zu sehen, wie weit der neue US-Präsident bereit ist für die Ukraine zu gehen. Immer wieder kommt auch die prekäre Wasserversorgung der Krim zur Sprache. Die Halbinsel wurde früher über das Festland versorgt, seit 2017 liegt der Kanal trocken. Eine Landverbindung zwischen der Krim und den Separatistengebieten könnte das ändern.
Was sagt Moskau?
Russland erklärt, dass es für Truppenbewegungen auf seinem Gebiet niemandem Rechenschaft schuldig sei. Der Kreml warnt außerdem vor der Gefahr eines aus seiner Sicht neuen Bürgerkriegs im Nachbarland und erklärt sich offen bereit, zum Schutz seiner Staatsbürger militärisch einzugreifen. Russland werde einer „menschlichen Katastrophe“ nicht tatenlos zuschauen, sagte Sprecher Dmitri Peskow.
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Moskau gibt trotz internationalen Protests Pässe an die Menschen in den abtrünnigen Gebieten aus. Mehr als 400.000 sollen inzwischen die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Das Vorgehen weckt Erinnerungen an die Annexion der Krim. Damals begründete Russland sein Eingreifen mit dem Schutz russischer Bürger vor Ort.
Was sagt Kiew?
Das ukrainische Militär widerspricht russischen Vorwürfen über die angebliche Vorbereitung einer Offensive. Die Ukraine plane keinen Angriff, erklärte Armeechef Ruslan Chomtschak. Anderslautende Berichte kritisierte er als „Desinformationskampagne“.
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Eine Rückeroberung der Separatistengebiete führe „unweigerlich zum Tod einer großen Anzahl an Zivilisten und Verlusten unter Militärdienstleistenden“ und sei nicht akzeptabel.
Kiew glaubt, dass der Kreml einen Vorwand für einen groß angelegten Militäreinsatz suche, betont aber, dass man einer diplomatischen Lösung den Vorzug gebe. Das Militär sei jedoch bereit, bei einer Eskalation eine „angemessene Antwort“ zu geben. Noch im März hatte Chomtschak allerdings verkündet, Präsident Selenski habe kein Problem damit, den Befehl für eine Offensive zu geben.
Was sagt der Westen?
Deutschland, die USA und die Nato sind besorgt. Der Vorsitzende der konservativen EVP im Europaparlament, Manfred Weber (CSU) bringt nun schärfere Sanktionen gegen Russland ins Spiel.
Ein weitgehendes Einfrieren von Oligarchen-Konten oder ein Abtrennen Russlands vom Swift-Zahlungssystem müsse „im Eskalationsfall real sein“, sagte er den Zeitungen der Funke-Medien. Auch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 wäre im Fall einer Eskalation nicht mehr haltbar. Der russische Truppenaufmarsch sei ein Test für den Westen. Die Antwort darauf müsse „unmissverständlich und stark sein“.
Erdogan erklärte derweil: „Wir glauben daran, dass die aktuelle Krise auf Basis der Integrität der Ukraine und internationalen Rechts mit friedlichen und diplomatischen Methoden gelöst werden muss“.
Das Nato-Mitglied Türkei und die Ukraine unterhalten enge Beziehungen zueinander. Die Türkei meldete zudem, dass die USA in dieser Woche zwei Kriegsschiffe ins Schwarze Meer schicken wollen. Sie sollen bis zum 4. Mai bleiben.
In Wien wollte die Ukraine am Samstag bei einer Sitzung der OSZE die aktuelle Lage diskutieren. Russland nahm daran allerdings nicht teil. Moskau habe als OSZE-Mitglied Verpflichtungen und müsse sich zu den Sorgen der anderen Staaten äußern, hieß es aus der deutschen Vertretung.
„Wenn Russland nichts zu verbergen hat, könnte es leicht erklären, welche Truppen wohin bewegt werden und zu welchem Ziel“, forderte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).
Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg?
Eine neue heiße Phase des Krieges halten die meisten Beobachter für nicht sehr wahrscheinlich. Keine Seite dürfte Interesse daran haben. Die Ukraine möchte der Nato beitreten, solange sie kein Mitglied ist, kann sie sich kaum auf militärische Hilfe des Westens verlassen. Dabei hat Kiew Georgien vor Augen; als die USA dem Verbündeten 2008 gegen einen russischen Einmarsch nicht beistanden.
Eine ukrainische Offensive dürfte eine russische Antwort wahrscheinlich machen – und zu einem endgültigen Verlust der Regionen im Osten führen. Über den wird sich Russland wiederum nicht uneingeschränkt freuen, denn er wäre für Moskau mit wirtschaftlichen Kosten verbunden. Innenpolitisch kann Moskau wenig von einer Intervention profitieren.
Zudem bleibt die Gefahr mit einem Eingriff den Westen doch noch zu einem Stopp von Nord Stream 2 zu bringen – kurz vor Fertigstellung. Das militärische Muskelspiel dient nach Einschätzung von Maxim Samorukow vom Moskauer Thinktank Carnegie daher eher als Drohgebärde Richtung Kiew und Washington, den Status quo im Donbass nicht anzutasten.
Eine Gefahr bleibe beim Säbelrasseln dennoch: Ein Fehler könnte in einer solchen angespannten Situation leicht unbeabsichtigt zu einem großen Gewaltausbruch führen.