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Bitte nicht nörgeln: Bundespräsident Joachim Gauck warnt die Deutschen vor zu viel Verzagtheit.
© Tsp/Mike Wolff

Bundespräsident Joachim Gauck: „Klar habe ich manchmal auch Angst“

Bundespräsident Joachim Gauck spricht im Interview über reale und eingebildete Bedrohungen, über Ostdeutschlands Vergangenheit, die syrische Gegenwart und die Zukunft von Europa.

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Herr Bundespräsident, wir möchten mit Ihnen über Angst sprechen. Darf ein Staatsoberhaupt zugeben, Angst zu haben?

Angst zu haben ist menschlich, genau wie Mut. Auch Staatsoberhäupter haben Angst, und sie sollten es zugeben. Und wenn Sie mich persönlich fragen: Klar habe ich manchmal auch Angst. Aber Gott sei Dank hat die Angst nicht mich.

Stimmt, was Angela Merkel sagt: „Die Welt ist aus den Fugen?“

Es kommt darauf an, wohin man blickt. Global betrachtet steht die Welt derzeit wieder einmal vor besonderen Herausforderungen. In Aleppo beispielsweise sind von unterschiedlichen Kriegsparteien sämtliche Regeln des humanitären Völkerrechts mit Füßen getreten worden. Nehmen wir etwa die syrische Regierung: Obwohl sie verpflichtet wäre, ihre eigene Bevölkerung zu schützen, haben sie und ihre Verbündeten den Bewohnern der Stadt furchtbares Leid zugefügt. Die Welt dieser Menschen ist in unerträglicher Weise aus den Fugen.

Und wir werden damit konfrontiert, wie kläglich Mechanismen der internationalen Ordnung versagen – Mechanismen, die für unzählige Menschen existenziell im wahrsten Sinne dieses Wortes wären; Mechanismen, die jetzt und künftig greifen müssen, wenn wir nicht zusehen wollen, wie immer wieder Zivilisten massakriert, verletzt, vertrieben werden; Mechanismen, zu denen übrigens auch gehört, dass alle, die solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie in Syrien begangen haben, sich für ihre Taten verantworten müssen.

Nicht nur im Vergleich mit Syrien, sondern im Vergleich mit den meisten Regionen dieser Erde geht es uns hierzulande sehr gut. Trotzdem sind etliche Menschen verunsichert, haben Zukunftsangst.

Wenn ich mir Deutschland anschaue, stelle ich fest: Es ist seit Jahrzehnten so stabil, friedlich und wohlhabend, wie es keine Generation vor uns erlebt hat. Die meisten kennen keinen Krieg, keinen Hunger mehr. Deshalb ist bei vielen Menschen über die letzten Jahrzehnte ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Unbesorgtheit entstanden. Wenn in dieser Welt der Sicherheit, in der wir leben, Risse entstehen – etwa weil Kriege und Krisen geografisch näher an uns heranrücken –, dann erscheint uns das rasch wie eine fundamentale Bedrohung.

Ist unsere Angst nur Aufbruch zur Selbstvergewisserung?

In etlichen Ländern beobachten wir eine Phase neuer Unsicherheiten. Die Briten haben sich intensiv mit ihrem Selbstbild beschäftigt und sich unter anderem aus dem Wunsch nach wieder mehr Souveränität zum Brexit hinreißen lassen. In Russland sehen wir eine Sehnsucht nach alter Größe. Bei einigen unserer europäischen Nachbarn herrscht tiefe Verunsicherung. Fast überall fragen sich Gesellschaften: Wer sind wir eigentlich? Verglichen mit manchen anderen Ländern treiben diese Fragen uns in Deutschland nicht oder noch nicht so sehr um.

Aber auch hier haben Bewegungen Zulauf, die einen Kurs der Renationalisierung fahren. Sie versprechen, die Lösung aller Probleme liege in der Begrenzung auf unser Land, im Rückzug auf Nationales. Gewiss, dort, wo es große soziale Schwierigkeiten gibt, wo etwa viele Menschen arbeitslos sind, stoßen solche Töne schneller auf offene Ohren. Dass aber in Gesellschaften wie denen der Niederlande oder Deutschlands, wo es vielen Menschen im Moment ziemlich gut geht, populistische Strömungen nationaler Prägung Zulauf erfahren, das ist schon schwerer zu fassen und zu erklären. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Angst ist in diesen Fällen eher ein kollektives Getriebensein und kaum ein „Aufbruch zur Selbstvergewisserung“.

Die Menschen sagen: Globalisierung, Digitalisierung, Heimatverlust, Identitätsverlust – das macht uns Angst. Wie begegnen Sie dem?

Man muss akzeptieren, dass es diese Angst gibt, nach den Ursachen forschen und gegen sie angehen. Was auf keinen Fall passieren darf ist, dass Angst als Triebfeder von Politik benutzt wird. Politik soll die Menschen durch die Kraft der Ideen gewinnen und darf nicht ihre Verunsicherung ausnutzen. Wenn Menschen ihre Angst an mich herantragen, empfehle ich, diese Angst genau anzusehen und zu hinterfragen.

Zum Beispiel: Ist es denn wirklich so, dass der Zuzug vieler Menschen aus anderen Kulturen Christen hierzulande ihren Glauben streitig macht? Nein, so ist es nicht. Werden Einheimische wegen der Zuwanderer daran gehindert, deutsch zu sprechen oder sich in ihrer Umgebung frei zu bewegen? Nein, werden sie nicht. Hat unser Land bewiesen, dass es die Kraft besitzt, sich zum Guten zu entwickeln? Ja, hat es.

Ich bin fest davon überzeugt: Wenn man die Menschen zum Innehalten bewegen kann, dann erkennen sie, was unsere Gesellschaft ausmacht: der Aufbau des Landes nach dem Krieg, der Fall der Mauer, ein robustes Rechts- und Sozialsystem … Ist man bereit, sich anzuschauen, was dieses Land geschafft hat, dann kann das Selbstvertrauen wachsen und Angst schwinden.

Wir beobachten eher das Gegenteil: Nationalistische Bewegungen erhalten Zulauf.

Wir haben nationalistische Strömungen und wie überall in Europa Protestwähler, die mit unserer Demokratie hadern. Das macht mir zwar Sorgen, aber keine Angst. Denn ich bin sicher, dass das Land in seinen Grundfesten nicht gefährdet ist. Deutschland hat zwei Diktaturen hinter sich gebracht; es ist doppelt geimpft.

Sind die Demokraten des Westens kämpferisch genug, um den Nationalismus zurückzudrängen?

Bisher sind es zu wenige, die sich das auf die Fahnen geschrieben haben. Viele Bürger leben in Sicherheit, im Wohlstand und begnügen sich auch erst mal damit. Ein Teil von ihnen geht noch nicht einmal zur Wahl, verzichtet also darauf, die Geschicke des eigenen Landes mitzubestimmen.

Was daraus erwachsen kann, haben wir vor einigen Monaten in Großbritannien gesehen. Dort wählte eine Mehrheit den EU-Austritt – und hinterher beklagten die jungen Menschen, dass das ihrem Interesse zuwiderlaufe. Nur: Gerade von ihnen, also den jungen Briten, waren zu viele der Abstimmung über ihre Zukunft ferngeblieben. Gewiss gibt es auch zahlreiche Bürger, die sich sehr für das Gemeinwohl, die Demokratie oder ein einiges Europa engagieren. Aber gerade in diesen unübersichtlichen Zeiten könnten es noch mehr Entschlossene und Tatkräftige sein. Das gilt für unsere europäischen Nachbarn und natürlich auch für uns selbst.

Sind wir zu weinerlich?

Vielleicht manchmal zu verzagt. Das viel beschriebene Phänomen der „German Angst“ ist ja nicht ohne Grund zu einem geflügelten Wort geworden. Vielleicht verhält es sich so, dass gerade unsere große Sicherheit und unser Wohlstand manchmal Zweifel aufwerfen, ob das alles tragfähig ist und dass diese Unsicherheit dann in Angst mündet. Außerdem gibt es Deutschland gewissermaßen zweimal – einmal real, ein Land, in dem der Staat und Bürger nicht alles aber doch vieles sehr gut bewältigen. Und dann gibt es dieses Land auch noch im Spiegel der Öffentlichkeit. Dort, also vor allem in den Medien, dominieren dann häufig Berichte über das, was der Politik, den Institutionen oder der Gesellschaft nicht glückt.

Anders ausgedrückt: Das Gute kommt wenig rüber, zu wenig, finde ich. Das ist nicht ungefährlich. Es erzeugt oder schürt nämlich bei manchen Menschen die Angst, das Unzureichende, das Schlechte, das Bedrohliche seien realer als die vielen Beispiele des Gelingens, von denen wir umgeben sind. Wer dauernd gesagt bekommt, alles ist irgendwie schlecht, misstraut irgendwann seinen eigenen, positiven Erfahrungen.

Sind wir eine Lücken-Presse, die die Angst schürt?

Wir alle müssen uns selbstkritisch fragen, ob wir berechtigte und notwendige Kritik verantwortungsbewusst einsetzen, ohne Angst zu schüren. Ich plädiere dafür, Wirklichkeit nicht zu schönen, aber auch nicht zu entstellen, sondern sie so darzustellen, wie sie ist. Und ich kann uns alle – Politik, Medien, Zivilgesellschaft – nur ermuntern, sich diesem Prozess der Selbstvergewisserung zu unterziehen.

Haben die im Bundestag vertretenen Parteien Ängste nicht ernst genommen und damit dem Populismus den Raum geöffnet?

Ich bin sicher, dass es Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern alles andere als gleichgültig ist, was die Bürger bewegt. Aber es kann sein, dass die vielen sehr komplexen politischen Themen die Verantwortlichen derart stark in Anspruch nehmen, dass sie mit den Menschen nicht so intensiv sprechen können, wie es notwendig wäre und wie sie das gerne tun würden. Ich glaube, das wissen die Politiker auch, wenn sie die Nähe zu ihren Wählern suchen, etwa in der bewährten Bürgersprechstunde, in Town-Hall-Meetings oder über das Internet. Dass sie das tun, ist gut. Denn es zeigt den Bürgern: Die Politiker sind für sie da.

Bei der Lösung eines Problems, wie etwa dem Zuzug sehr vieler Flüchtlinge hierher, spielt die Kommunikation mit der Bevölkerung eine sehr, sehr große Rolle. Man muss sich ihr mit gleicher Kraft widmen wie etwa dem Schmieden eines Kompromisses mit dem Koalitionspartner oder dem Erlass eines Gesetzes. Die Bürger ausführlich über politische Vorhaben zu informieren, sich mit ihnen darüber auszutauschen, Fragen zu beantworten, sich Kritik anzuhören, Verbesserungsvorschläge entgegenzunehmen … All das ist mühevoll aber unerlässlich, wenn man die Menschen für die eigene Politik gewinnen will.

Warum erreichen selbst politische Debatten ihr Publikum nicht?

Ich bin gar nicht überzeugt, dass das so stimmt. O. k., ein Teil der politischen Debatten dreht sich überwiegend um sehr spezielle, eher technische Fragen, die das große Publikum nicht interessieren. Das ist eben so in unserer komplexen Welt. Aber über andere große, grundsätzliche Themen wird doch diskutiert. Und das ist – wie etwa in der Flüchtlingsfrage – auch nötig. Wo steht eine Gesellschaft in der Frage der Aufnahme von Menschen? Was traut sie sich zu? Was nicht? Da sind grundsätzliche Auseinandersetzungen unabdingbar.

Klar, zeitweise überziehen manche Akteure auch, drängen sich gegenseitig in Ecken, in die sie eigentlich nicht gehören, ziehen dadurch andere in die Auseinandersetzung hinein. Das geht nicht immer im Kammerton ab; aber es ist wichtig, und ich ermuntere alle zur intensiven und ernsthaften Debatte um den richtigen Weg in dieser und in anderen Fragen. Wo das ausbleibt, wo die Auseinandersetzung in reine Rechthaberei oder in Unterhaltung abrutscht, da gewinnen Populisten Raum.

Was raten Sie?

Populisten finden ihr Publikum auch dort, wo sie die etablierte Politik dazu bringen können, auf hoch komplexe Probleme der Innen- und Außenpolitik allzu simple Antworten zu geben. Klar, man muss sich darum bemühen, schwierige politische Zusammenhänge so darzustellen, dass sie sich möglichst vielen Menschen erschließen. Aber das muss eine erhellende, aufklärende, es darf keinesfalls eine verschleiernde, verführende Vereinfachung sein.

Das Amt des Bundespräsidenten ist eines, das mit Versöhnung und Zusammenhalt der Nation verbunden wird. Kaum einer Ihrer Vorgänger war aber derart mit Hass und Ausgrenzung in der Debatte konfrontiert. Macht Ihnen das Angst?

In einer meiner ersten Reden vor dem Bundestag habe ich denen, die hassen und ausgrenzen, zugerufen: „Wir schenken euch nicht unsere Angst“. Es ist schmerzhaft für aufgeklärte Demokraten zu akzeptieren, dass Destruktivität in Menschen und Gesellschaften steckt. Aber ich rate, manche Phänomene nicht größer zu machen, als sie sind.

Pegida etwa spielt vor allem im Osten Deutschlands eine Rolle; es steckt viel ostdeutsche Geschichte und ihre Verarbeitung darin. Würde es eine solche Bewegung nennenswerten Ausmaßes auch in München, Kiel oder Stuttgart geben, wäre meine Sorge größer. Hass ist kein Mittel der Auseinandersetzung, denn es ist keine Zukunft in ihm. Ich glaube, er kann die Wände unserer Demokratie beschmieren – ihre Mauern einreißen aber kann er nicht.

Ein Blick in das kommende Jahr: Werden wir, ähnlich den Briten nach dem Brexit, am Ende erschrocken sein darüber, dass wir Europa verloren haben?

Fragen Sie, ob ich glaube, dass die EU zerbricht? Nein, soweit ich in die Zukunft blicken kann, wird das nicht geschehen. Trotzdem sollte man sich klarmachen, was es bedeuten würde, wenn es so weit käme – mit anderen Worten: Das Unaussprechliche denken, um es zu verhindern und nicht einfach glauben, dass es schon nicht so schlimm kommen wird.

Haben Sie jemals mit der Kraft Ihres Amtes gehadert?

Nein. Das erste Jahr war schon auch eine Lektion in Demut und ich habe viel über die Grenzen dieses Amtes gelernt. Ich musste erst ein Gefühl dafür entwickeln, dass und wie ich innerhalb dieser Grenzen wirken kann. Wenn ich jetzt zurücksehe, dann kann ich sagen: Ich habe mich ganz gut zu Hause gefühlt in dem Amt und es hat Freude gemacht.

Wenn Sie im nächsten Jahr aus dem Amt scheiden, Herr Gauck, werden Sie Berlin als Bürger erhalten bleiben?

Ja, das werde ich. Ich wundere mich zuweilen selber darüber, denn ich bin im Herzen ein Mecklenburger. Aber dieses Berlin mit seiner manchmal atemberaubenden, manchmal anstrengenden Mischung ganz und gar unterschiedlicher Typen, ist Daniela Schadt und mir zur Heimat geworden.

Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff und Antje Sirleschtov.

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