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Das Ziel der Wahlrechtsreform: Weniger Abgeordnete im Bundestag - auch nach der Coronakrise.
© Jörg Carstensen/dpa

Die CSU und die Wahlrechtsreform: Kippen statt kappen

Horst Seehofer und die CSU tun sich schwer mit der Wahlrechtsreform. Scheitert selbst eine Notlösung am bayerischen Beharren?

Horst Seehofer hat es ganz formell gemacht: „Sehr geehrter Herr Abgeordneter“, so beginnt sein Brief an den CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, in dem der Bundesinnenminister sich zum Verlauf der Wahlrechtsreform äußert. Was folgt, sind amtliche Zweifel an einem Vorschlag, den die SPD im Februar vorlegte und der Chancen hat, als die „Notlösung“ für die Wahl 2021 zu dienen, die Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) unlängst im Tagesspiegel gefordert hat.

Denn auf ein Modell, das dauerhaft einen kleineren Bundestag garantieren würde als jetzt – das Parlament hat 709 Abgeordnete, bei einer Mindestsitzzahl von 598 –, konnten sich die Fraktionen nicht verständigen. Im Bundestag ist nun die Aufregung groß: Will die ohnehin widerspenstige CSU nun auch noch die Notreform boykottieren? Schon am vergangenen Donnerstag mussten sich die Bayern in einer Aktuellen Stunde im Bundestag viel Kritik anhören.

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Die Sozialdemokraten haben eine Deckelung bei 690 Abgeordneten vorgeschlagen, eine Idee, die auch aus der CSU heraus zu Jahresbeginn ins Gespräch gebracht worden war. Allerdings läuft der SPD-Vorschlag darauf hinaus, das Problem von Überhängen, sollte es trotz des ausgeweiteten Rahmens welche geben, durch eine Kappung zu lösen. Das bedeutet, dass bis zum 690er-Deckel die Sitze proportional an die Parteien verteilt werden. Sollte es dann noch Überhänge einer Partei geben, werden Direktmandate dieser Partei nicht zugeteilt – und zwar die schwächsten nach Erststimmenprozenten. Doch genau das will die CSU nicht, auch unter CDU-Abgeordneten stößt das auf Ablehnung. Die Union stellt die meisten Direktmandatsgewinner, also ist hier der Widerstand kräftig.

Seehofer erklärt Grundsätze

Und Seehofer bestärkt ihn mit seinem Brief an Dobrindt. Der Innenminister, dessen Ressort die Zuständigkeit für das Wahlrecht hat, verweist auf den Paragraphen 5 des Wahlgesetzes: Demnach wird in jedem Wahlkreis ein Abgeordneter gewählt, und das Mandat bekommt der Bewerber mit den meisten Stimmen. Es findet also relative Mehrheitswahl statt. „Diese seit 1949 geltende Direktmandatsregelung war bisher nie streitig“, stellt Seehofer fest. „Wahlkreisbewerber, die in der Mehrheitswahl im Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereint haben, das Wahlkreismandat dennoch nicht antreten zu lassen, würde eine grundlegende Abkehr von der seit 1949 zu unserem Wahlsystem der Personalisierten Verhältniswahl gehörenden Mehrheitswahl in den Wahlkreisen“ bedeuten. Das sieht man zwar quer durch die Unions-Fraktion so, aber es gibt nun im CDU-Teil eine gewisse Bereitschaft, den Grundsatz zu opfern. Als „Notfalllösung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen“, wenn auch „ein fragwürdiges Ergebnis“ – zu dieser Formel rang sich der CDU-Wahlrechtsexperte Ansgar Heveling in der Bundestagsdebatte durch.

Verstoß gegen Verfassung?

Nicht so die CSU: Deren Mann für das Wahlrecht, Michael Frieser, hielt sich eng an Seehofers Brief, als er sich im Parlament gegen das Kappen von Direktmandaten aussprach – mit der Begründung, es sei „im Endeffekt verfassungswidrig“. Seehofer argumentiert, dass das Verfassungsgebot der Gleichheit der Wahl verletzt sei, wenn bestimmte Direktmandate nicht zugeteilt würden, andere aber doch. Das verletzte auch die Erfolgswertgleichheit – eine auf die Verhältniswahl bezogene Regel, die das Bundesverfassungsgericht einmal aufgestellt hat: Stimmen von Wählern der gekappten Direktbewerber wären quasi „gleich Null“. Seehofer warnt daher vor „der Gefahr von Wahlanfechtungen mit dem Risiko der Ungültigkeit der Wahl“. Unter Juristen ist diese Meinung allerdings umstritten. Denn kann es Erfolgswertgleichheit – alle Stimmen müssen sich im Wahlergebnis niederschlagen – bei der Mehrheitswahlkomponente überhaupt geben? Immerhin fallen ja alle Erststimmen der Wähler, die sich für einen unterlegenen Bewerber im Wahlkreis entschieden haben, auch jetzt schon unter den Tisch, sind also „gleich Null“.

Kappung ist umstritten

Allerdings ist Seehofers Argumentation nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn über Kappungsmodelle wird seit langem debattiert, und immer spielten verfassungsrechtliche Zweifel eine Rolle. Ein Grund, den Seehofer gar nicht erwähnt, ist hier im Spiel: Werden die schwächsten Direktmandate gekappt, um Überhänge zu vermeiden, dann lassen sich die gefährdeten Wahlkreise schon vor der Wahl ausmachen. Im Fall der CSU etwa hätte es zuletzt die Bewerber in München und Nürnberg getroffen, wo die Partei schwächer abschneidet. Damit findet der Wahlkampf um Erststimmen dort unter ganz anderen Vorzeichen statt als anderswo.

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Die Lösung im Rahmen der personalisierten Verhältniswahl könnte daher eher darin liegen, die Direktmandatsgarantie für Wahlkreissieger nicht nur aufzuheben (wie in den Kappungsvorschlägen), sondern überhaupt von der Mehrheitswahlkomponente abzurücken. In den Wahlkreisen ginge es dann nicht mehr darum, wer allein den Wahlkreis gewinnt (und damit ein sicheres Mandat), sondern für alle Bewerber um das Sammeln von möglichst vielen Stimmen, um sich so für einen Sitz zu qualifizieren.

Entsprechend würden diese Art von Direktmandaten dann (und zwar in allen Parteien) nach Prozentanteilen verteilt.Solche Erststimmenreihungsmodelle – der Politikwissenschaftler Joachim Behnke spricht auch von „rangplatzorientierter personalisierter Verhältniswahl“ – wurden im Bundestag auch schon diskutiert und finden sich als Alternativlösung im Gesetzentwurf, den FDP, Linke und Grüne im vorigen Herbst vorlegten.

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